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Unterwegs   

Winfried Bader zur Lesung an Fronleichnam SKZ 19-20/2008

Alttestamentliche Lesung: Dtn 8,2–3.14–16a
Evangelium: Joh 6,51–58

Unterwegs sind wir heute alle. Die einen täglich beim Pendeln zur Arbeitsstelle, die anderen beim Ausflug am Wochenende. Die grosse Ferienreise schliesslich ist das Gesprächsthema fast während des ganzen Jahres. Wir sind mit Flugzeug, Bahn und Auto unterwegs, auch Töff, Velo oder Rollerblades kennen wir als Fortbewegungsmittel. Neuerdings kommt sogar wieder das gute alte Wandern in Mode, in der sportlichen Variante als Walking und Trekking, in der besinnlichen als «Jakobsweg». Überall kann es unterwegs zu Schwierigkeiten kommen: der Stau vor der Stadteinfahrt, der verspätete Schnellzug, der abgesagte Flug. Für alles können wir dann irgendwen verantwortlich machen: all die anderen, die ausgerechnet jetzt auch auf dieser Strasse fahren müssen, die Bahn, deren Organisation als notorisch schlecht vorverurteilt wird, der Reiseveranstalter, der unzuverlässig ist und den wir selbstverständlich einklagen werden.

Mit Israel lesen

Die Bibel kennt ein solches Unterwegssein als menschliche Grundhaltung. Seit dem Ruf an Abraham ist das Volk Israel unterwegs. Als Nomaden, Fremdlinge, Sklaven, sind sie nur geduldet und befinden sich im Modus der Wandernden. Im gelobten Land angekommen wird die Katastrophe des Exils die Wanderschaft fortsetzen. Auf diesen Wegen durch die Jahre, Jahrzehnte und Jahrhunderte gibt es Momente des Glücks und Phasen von Schwierigkeiten und Problemen.

Die heiligen Schriften interpretieren den Weg: Er ist von Gott gegeben. Höhen und Tiefen des Wegs werden als Gottes Pädagogik angesehen. Die schlechten Erfahrungen der Wüste schickt Gott, um «dich gefügig zu machen» (Vers 2). Mit den guten Erfahrungen «wollte er dich erkennen lassen» (Vers 3).

Was Gott da macht, ist nicht sofort einsichtig. In Num 21,5, will das Volk lieber nach Ägypten zurück, als in der Wüste des Durstes zu sterben. Vor dem Manna ekeln sie sich. Sie erkennen es nicht als eine besonders erlesene Speise. Das machen erst die Schriften: Nach Ex 16,31 war es «weiss wie Koriandersamen und es schmeckte wir Honigkuchen». Nach Num 11,7 war es «wie Koriandersamen und sein Aussehen wie Edelharz». Der Geschmack gleicht nach Num 11,8 einem Ölkuchen. Manna ist kein Elendsbrot, wie die murrenden Israeliten meinen, sondern eine gute und geschmackvolle Speise, ein leichtes Brot wie die Könige es essen, damit keiner von einer Darmkrankheit gepackt wird, so die Rabbinen.

Das Zeichen des Mannas braucht eine Erklärung. Die positive Sicht, wie sie in Dtn 8,3 angesprochen ist, entsteht durch Reflexion. Rabbi Abahu vergleicht Manna mit der Mutterbrust: «Wie die Brust dem Säugling vielerlei Geschmäcke bietet, so können auch die Israeliten beim Genuss des Mannas vielerlei Geschmäcke entdecken». Raschbam meint, das Manna ist vor dem Mahlen hart und trocken, danach aber ölig. Zudem kann es nach Ibn Esra roh, gebraten oder gekocht gegessen werden. Es besitzt damit eine Vielfalt im Geschmack und in der Art der Zubereitung. Die undankbare Haltung gegenüber dem Manna ist fast ein modernes Problem, wie es auch unsere Überflussgesellschaft kennt. So meint Mose Mendelsohn, «dass der allzu lange Genuss des Manna die Verleidung hervorgerufen habe. Die Israeliten hätten die Güte Gottes nicht erkannt, durch die sie täglich ohne Anstrengung hatten satt werden dürfen».

Das führt zu den Einleitenden Gedanken zurück. Auch wir Menschen gehen heute viele Wege. Nur selten gelingt es uns, sie zu interpretieren und kaum verwenden wir das Interpretament «Gott». Es sind andere Faktoren, die wir für Reiseschwierigkeiten und Hindernisse auf der Karriereleiter verantwortlich sehen. Der alltägliche Überfluss ist wie bei den Israeliten das Manna selbstverständlich geworden, warum dann «Gottesgeschenk» sagen?

Dtn 8 fordert ein Rückblicken auf den gegangen Weg, als Weg Gottes mit den Menschen. Der Hunger ist der Test, ob «du auf seine Gebote achten würdest» (Vers 2). Die Entscheidung zu den Geboten – sie wird hier vorausgesetzt – ist der Schlüssel, das unbekannte Manna als Geschenk zu verstehen. Damit ist aber klar: Es braucht beides, das Wort und das Brot.

Die Einsicht in den anthropologischen Kernsatz ist das Erziehungsziel: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern vom Wort Gottes (Vers 3), das den Dekalog und weitere Zusagen Gottes einschliesst. Es zeigt die Grundbedürfnisse des Menschen, die Nahrung für den Leib und die Nahrung für die Seele. Es ist das tägliche Brot und die orientierende Verkündigung Gottes.

Ganz ähnlich findet sich dieser Gedanke bei Jes 55,1–3. Dort wird als Grundbedürfnis das Wasser gesehen, das dann verglichen wird mit dem Hören auf Gott (Joh 4 greift dieses Bild auf ).

Der zweite Teil der Lesung ab Vers 14 warnt davor, Gott zu vergessen, wenn alles wie selbstverständlich gelingt. Gegen dieses Vergessen erinnert der Text daran, dass Gott Israel durch Giftschlangen hindurchgeführt hat. Da hat jeder Hörer sofort Num 21,6 im Gedächtnis, wo genau das umgekehrte passiert: Gott straft und befiehlt den Schlangen zu beissen. Der Kontrast macht klar, wie wenig selbstverständlich es ist, wenn man ohne Biss durch die Schlangen kommt. Gott hat da geholfen, so interpretiert Israel.

Mit der Kirche lesen

Wie wird mit den alten Schriften in den Evangelien umgegangen? «Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von jedem Wort, das aus Gottes Mund kommt» (Dtn 8,3) wird zum einen direkt zitiert. Jesus antwortet in Mt 4,4 seinem Versucher mit diesem Zitat. Die Schrift wird als Autorität gebraucht; sie gilt als Beweis. Jesus kann sich auf Auswendiggelerntes zurückziehen; in heiklen Diskussionen eine wichtige Hilfe.

Zum anderen können die Evangelien auf Denkmodelle und Vorstellungen aus den Schriften zurückgreifen, um Jesus in seiner Bedeutung zu erfassen. Ohne die Gedankenwelt des Mannas in der Wüste, wie wir sie oben schilderten, wäre der Satz aus dem heutigen Johannesevangelium «Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel herabgekommen ist» (Joh 6,51) nicht verständlich. Betrachtet man das Christusereignis aus fundamentaltheologischer Sicht, so fand das göttliche Wortereignis in Jesus seinen epochalen Durchbruch und seine kategoriale Erfassung. Die kategoriale Erfassung des Christusereignisses wäre aber ohne die Bilder, die Symbole und Denkmuster des Ersten Testaments nicht möglich.

So bleibt uns die Aufgabe, die Kategorien, mit denen Jesus damals erfasst wurde, zu deuten und zu ändern, wenn die Symbole und Denkmuster heute nicht mehr verstanden werden. Wenn Manna und Brot für uns nicht mehr geläufige und sprechende Bilder sind, so bietet Fronleichnam mit seinen an vielen Orten noch üblichen Prozessionen die Chance, das Bild des Wegs als Kategorie zum Ausdruck des Geheimnisses zu nehmen. Dann wird der konkrete Weg, den wir durchs Leben gehen, in der Reflexion ein Gehen auf Gottes Wegen (Dtn 8,6).