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Wer lobt, sieht mehr: Schöpfung und Geist in Psalm 104   

Martin Brüske zum Antwortpsalm am Hochfest Pfingsten SKZ 20/2007

Denken und Danken als Einheit sind Bedingung rechter Schöpfungserkenntnis. Diesen Zusammenhang macht Paulus gleich zu Beginn des Römerbriefs eindringlich deutlich (Röm 1,18 ff.). Nur das Danken kann das Denken retten. Das Denken, das sich aus dem Zusammenhang der Doxologie löst, verfällt der Nichtigkeit und der Verfinsterung. Es degeneriert zur Götzenschmiede, indem es Schöpfer und Geschöpf vertauscht. Diese Verwechslung entfaltet eine negative Dynamik, einen Sog nach unten. Paulus spürt diesen Sog so stark, dass er sich, wenn er ihn auf den Punkt bringt, durch eine in den Gedankenfluss eingebaute Doxologie zur Wehr setzen muss (Röm 1,25). Das ursprüngliche Denken aber in seiner Einheit mit dem Dank ist kein haltloses Räsonieren, sondern zunächst ein vernünftiges Schauen und Wahrnehmen, noch vor jeder Schlussfolgerung. Und es ist auch nicht so, als ob erst das Denken komme und dann das Danken, sondern in der ursprünglichen Wahrnehmung des Herrlichkeitsglanzes Gottes in seiner Schöpfung sind Denken und Danken untrennbar beieinander. Kurz: Wer lobt, sieht mehr. Und auf die Dauer sieht überhaupt nur wirklich, wer den Lobpreis Gottes und die dankende Anerkennung des Schöpfers – gepriesen sei ER! – zur Mitte seiner Existenz macht: Die doxologische Lebensform der recht gefeierten Liturgie hält den Kopf klar.

Dieser Zusammenhang von Schöpfungserkenntnis und preisendem Dank wurde in der Theologie der Schöpfung sicher nicht negiert, aber doch in ihrer grundlegenden Bedeutung eher selten namhaft gemacht. Man muss nur einmal darauf achten, wie weit in den einschlägigen Monographien und Handbüchern der Schöpfungslobpreis der Psalmen nicht nur eine weitere – oft eher sparsam ausgewertete – Quelle der Schöpfungslehre bildet, sondern in seiner poetischen und doxologischen Qualität eine unverzichtbare Instanz eigenen Rechts bildet. Eine – grossartige – Ausnahme bildet hier die Schöpfungstheologie von Jürgen Moltmann. Die folgende Aussage ist wirklich ein Schlüssel zu Ps 104:

«Die ‹Schöpfungspsalmen› des Alten Testaments (Ps 8,19,104 u. a.) sind Danklieder und Lobpreisungen des Schöpfers. Sie haben eucharistischen Charakter. Diese formgeschichtliche Bemerkung soll die Erkenntnis der Welt als Schöpfung keineswegs in die religiöse Poesie abdrängen, sondern darauf aufmerksam machen, dass Dank und Lobpreis die sachgemässen und unaufgebbaren Elemente der kommunikativen Schöpfungserkenntnis sind. Die Erkenntnis der Welt als Schöpfung ist nicht Ansichtssache, sondern impliziert einen bestimmten Umgang mit der Welt, der die Existenz des Erkennenden betrifft und der ihn in eine grössere Gemeinschaft hineinnimmt: Die Wahrnehmung der Welt als Schöpfung erweckt Daseinsfreude. Die Darbietung der Welt an Gott in der Danksagung erweckt Daseinsfreiheit. . . . In diesem Zusammenhang ist der Mensch dazu bestimmt, das eucharistische Lebewesen zu sein. Der Ausdruck seiner Schöpfungserfahrung in Dank und Lobpreis ist seine Bestimmung von Anfang an. Sie ist auch der Inhalt seines Lebens in der Vollendung.»

Blicken wir im Licht dieser Aussage nun genauer auf Ps 104! Ebenso programmatisch wie formgerecht ist unser Psalm als weisheitlicher Hymnus durch eine Selbstaufforderung zum Lobpreis eingerahmt. Einigermassen blass übersetzt die EÜ mit «Lobe den Herrn, meine Seele!» Mit Zenger ist hier umfassender und reicher (und näher am hebräischen Text!) daran gedacht, dass der Beter sich ermuntert, sein ganzes Leben (seine näfäsch) zum rühmenden Segenspruch (zur beraka) zu machen. Damit aber sind wir genau in dem Zusammenhang, auf den uns Moltmann aufmerksam gemacht hat! Denn die griechischen Entsprechungen zu Beraka sind Eulogie und in nächster Nähe: Eucharistie. Der Beter fordert sich also auf, seine Existenz zu «eucharistischem» Lobpreis zu machen! Aber ein solcher rühmender Segensspruch ist immer Antwort auf den vorgängigen Segen Gottes. Das heisst: Die Schöpfungstheologie, die Ps 104 entfaltet, wird von vornherein in der Perspektive des Leben schenkenden und Leben immer wieder neu ermöglichenden Segenshandelns JHWHs begriffen, auf die die Beraka des Beters Antwort ist.

Dabei wird in dem Wahrnehmungsraum, der durch die antwortende Beraka des Beters offen gehalten und immer wieder neu geöffnet wird, zunächst der in seine Lichtherrlichkeit gehüllte (und auch verhüllte – die Wahrnehmung ist also eine indirekte!) Schöpfer selber sichtbar (V. 1bc–2a). Der Ort seines Thronens ist sein himmlischer Palast. So ist die erste Schöpfungssphäre, die in den Blick des Beters tritt, der Himmel. Dabei sind die meteorologischen Erscheinungen (Wolken, Sturm, Winde, Blitze) dieser Sphäre zugleich transparent auf ihre Funktion für den in seiner Schöpfung dynamisch waltenden Schöpfer: Sie bilden Thronwagen und Hofstaat (V. 2b–4).

Nun kommt ausführlich die Erde in den Blick (V. 5–23). Zunächst wird dabei der ursprünglichen Eingrenzung der Chaoswasser, die wie in Gen 1 die Erde bedeckten, durch die scheltende Donnerstimme Jahwes (vgl. Ps 29) und der dann möglichen Gestaltung der Erdoberfläche durch Berge und Täler gedacht. Die wohltuende Begrenzung des Chaos und die geordnete und abwechslungsreiche Gestaltung der Erdoberfläche lassen in der Anamnese des Ursprungs dessen fortdauernde Wirkung für die Gegenwart sichtbar werden (V. 5–9). In diesem Rahmen erweist JHWH sich nun auch für Mensch und Tier im räumlichen Rhythmus von unbearbeiteter Natur (V. 10–13 u. 16–18) und – darin eingebettet – Kulturland (V. 13–14) und im zeitlichen Rhythmus von Dunkelheit und Tageshelle (V. 19–23) als Geber aller guten Gaben. Angesichts dessen kann der Mensch nur in das überwältigte Lob der königlichen Weisheit des Schöpfers ausbrechen (V. 24). Schliesslich kommt als dritte Sphäre das Meer (so knapp wie der Himmel) in den Blick. Seine chaotische Bedrohlichkeit hat es verloren: Es ist befahrbar geworden; der Meereschaosdrache Leviatan ist Gegenüber eines lächelnden Spiels in der Hand des Schöpfers (V. 25–26).

Die Verse 26–30 ziehen die theologische Summe: «Jeder Atemzug ist Teilhabe an Gottes Atem» (Zenger). JHWH ist der Geber aller Speise; in der Zuwendung seines Angesichts und in der Gabe des Atems als Lebenskraft trägt, ermöglicht und ermächtigt er alles Leben. Ja, die Gabe des Atems ist Teilhabe am Atem, an der Lebenskraft JHWHs selbst. (Dies meint «Geist» in V. 30 – aber tatsächlich: der Hl. Geist ist ja nicht anderes als diese Lebenskraft in Person.) Dieser Teilgabe am Atem Gottes ordnet der Beter in programmatischer Weise (V. 30) das spezifische, Gott vorbehaltene Verb «schaffen» zu (vgl. Gen 1). Sie verbindet Gott und Mensch und sie verbindet sie in der Freude an solcher Gabe des Lebens, tagtäglich erneuertem Leben, und an seinem Geber (V. 31 u. 34). Hier schliesst sich der Kreis zu V.1. Die beraka der näfäsch (ursprünglich: Kehle als Organ des Atems!), die eucharistische Existenz, ist ermöglicht und ermächtigt durch den Atem Gottes als Gabe des Lebens. In diesem eucharistischen Lebensraum aber kann aus der Dynamik der Erneuerungskraft des Geistes das Antlitz (V. 30) der neuen, von allen Versehrungen und Entstellungen freien (V. 35) Schöpfung sichtbar werden.

Martin Brüske ist freier Mitarbeiter des Liturgischen Instituts der Deutschschweiz in Freiburg.