Wir beraten

«Jauchzt vor dem Herrn, alle Länder der Erde!»   

Josef-Anton Willa zum Antwortpsalm (Ps 100 (99)) am 4. Ostersonntag SKZ 16-17/2007

In Zeiten der Globalisierung und der Multikulturalität verstärkt sich bei Einzelnen und Gruppen die Tendenz, sich auf die eigene Identität zu besinnen. Die Suche und Pflege eines stärkeren Eigenprofils geht dabei nicht selten einher mit einem Rückzug auf sich selbst und mit der Ausgrenzung anderer, auch im religiösen Bereich. Der Zutritt zur eigenen Gemeinschaft und Gruppe, zum eigenen Land und Gebiet wird erschwert, die Grenzen werden klarer gezogen und undurchlässiger gemacht.

Gerade die gegenteilige Bewegung fordert Psalm 100. Das Volk, das hier spricht, öffnet seine Grenzen und richtet eine Einladung an alle Länder der Erde. Nicht ein ängstlich-misstrauisches, sondern ein vertrauensvolles und zuversichtliches Verhältnis zur Welt und zu den Menschen prägt diesen Psalm.

Völkerverbindender Dankgottesdienst

Psalm 100 bildet den Abschluss und Höhepunkt der Psalmenreihe 93–99, in denen der Gott Israels als König gepriesen wird (Jahwe-König-Psalmen). Die vorangehenden Psalmen zitierend, weitet Psalm 100 den Blick aus: Nicht nur das Volk Israel, sondern alle Völker sollen den einen Gott als Weltenkönig (an)erkennen und – zusammen mit Israel – feiern. Das hebräische Wort «Todah» in der Überschrift (V. 1a) bezieht sich auf eine Art Eucharistie, eine Feier der Danksagung mit Lobpreis, Bekenntnis und Opfermahl. Der Psalm entwirft die Vision eines internationalen, ökumenischen Dankgottesdienstes, zu dem Israel und die Völker einmal in versöhnter Verschiedenheit zusammenfinden.

Siebenfacher Aufruf zum Fest

Wegen seiner Kürze ist Psalm 100 einer der wenigen Psalmen, die in vollständiger Form (mit Ausnahme der einleitenden Überschrift V.1a) im Wortgottesdienst der Messe vorgetragen werden. Er gliedert sich in vier Verse mit je drei Zeilen. Der vierte und letzte Dreizeiler (V. 5), eingeleitet mit «denn», zeigt den Grund der Einladung und den Inhalt des Lobpreises an. Dieser Vers ist der einzige eigentliche hymnische Teil des Psalms, während die anderen Verse zum Lobpreis aufrufen und hinführen. Nicht weniger als sieben der zwölf Zeilen des Psalms beginnen mit einem Aufruf: Jauchzt! Dient! Kommt! Erkennt! Tretet ein! Kommt! Dankt! Der Psalm wird darum imperativischer Hymnus genannt. Offensichtlich brauchen nicht nur die Gastgeber Mut zu der kühnen Einladung, sondern auch die Gäste, die dieser Folge leisten sollen.

Von Gott auserwählt

Das Herzstück des Psalms bildet der zweite Dreizeiler (V. 3), dem auch der Kehrvers für die responsoriale Ausführung im Wortgottesdienst entnommen ist. Darin wird die erweiterte Bundesformel aus Psalm 95,7 aufgegriffen: «Der Herr ist unser Gott, wir sind das Volk seiner Weide, die Herde, von seiner Hand geführt.» Was sich dort auf die Erwählung des Volkes Israel bezieht, wird hier jedoch auf alle Völker übertragen. Der Bund Gottes gilt für die ganze Erde, denn er ist in der Schöpfung begründet: «Gott hat uns erschaffen, wir sind sein Eigentum» (V. 3b).

Im Laufe der Geschichte musste der Bund Gottes mit Israel immer wieder angemahnt und erneuert werden, sei es, dass das Volk besonderen Schutz benötigte, oder dass es dem Bund untreu wurde. Doch im Grunde hat Israel seine Erwählung durch Gott nie als ein exklusives Privileg betrachtet. Der Bund mit Israel nimmt vielmehr das Heil aller Völker vorweg und macht die Zuwendung Gottes zu seinen Geschöpfen offenbar.

Auserwählt zu sein bedeutet nicht, dass andere dadurch herabgemindert, abgelehnt oder ausgeschlossen werden, auch wenn uns diese Vorstellung in einer von Wettbewerb und Konkurrenz geprägten Welt schwerfallen mag. Auserwählt zu sein heisst, in seiner unendlichen Kostbarkeit und nicht austauschbaren Einmaligkeit erkannt und geliebt zu werden. Das ist ein schöpferischer Akt.Wen Gott erschafft, den wählt er aus. Alle Menschen sollen darum – nach dem Vorbild Israels – zur Einsicht gelangen, dass sie von dem einen Gott und Schöpfer auserwählt und ihm zugehörig sind.

Der Weg des Glaubens

Um die Kernaussage des Psalms legt sich ein doppelter Rahmen. Der innere Rahmen wird gebildet durch die Aufforderung: Kommt! (V. 2b; 4b) Tretet ein! (V. 4a; im Hebräischen jeweils der gleiche Begriff). Die Einladung geht dem Aufruf zur Erkenntnis Gottes (V. 3a) voraus. Sie soll also auch jene erreichen, die die Königsherrschaft Gottes noch nicht erkannt haben. Niemand wird zum Glauben gezwungen, sondern alle erhalten die Chance, vor Gott hinzutreten und sich frei zu ihm zu bekennen. Die Annäherung erfolgt in gestufter Weise:Wer Gott als seinen Schöpfer und sich selbst als Glied des Gottesvolkes (an)erkannt hat (3), der darf einen Schritt weitergehen und durch die Tore in die Vorhöfe des Tempels eintreten (4ab).

Den äusseren Rahmen bilden die Aufforderungen zum Festjubel: Jauchzt! (1b) Dankt! (4c) Der Weg der Erkenntnis setzt bei der Erfahrung von Freude ein und führt zur Dankbarkeit an die Adresse des Urhebers. Jubel und Freude sind dabei nicht nur augenblickliche spontane Gefühlsäusserungen, sondern auch Verhaltensweisen, zu denen man sich gegenseitig anspornen kann. Die erwarteten Lob- und Danklieder der Völker werden im hymnischen Bekenntnis der Güte und Treue Gottes des letzten Dreizeilers zusammengefasst.

Der Psalm und die Sonntagslesungen

Die Bezüge des Psalms zu den Lesungen des Sonntages sind offensichtlich.
Die Erzählung aus der Apostelgeschichte (1. Lesung) spielt sich in der Synagoge von Antiochia und nicht beim Jerusalemer Tempel ab, doch das Bild ist vergleichbar mit jenem des Psalms: Die offenen Türen bewirken, dass sehr viele Menschen, auch Fremde und Nichtgläubige, herbeiströmen. Jene, die ihr Auserwähltsein als Exklusivität betrachten, wittern Konkurrenz und werden eifersüchtig. Doch was Paulus und Barnabas ihnen entgegnen, wird von Psalm 100 bestätigt: Gottes Heil soll alle Völker erreichen. So finden viele, die gekommen sind, den Weg zum Glauben.

Im Zentrum der Perikope aus dem Johannesevangelium steht das Bild vom Hirten und seiner Herde, das auch zur Kernaussage des Psalms gehört. Christus selber ist der im Psalm gepriesene Hirte und König aller Völker. Seine Erlösungstat am Kreuz ist universal, denn sie betrifft alle Geschöpfe, deren Sterblichkeit sie überwindet. Christus kennt seine Schafe, denn er hat sie auserwählt; sie sind sein Eigentum. Dabei tritt er aber nicht an die Stelle des Gottes Israels. Er ist vielmehr eins mit ihm und handelt in seinem Auftrag. Der eine gute und treue Gott hat «den Menschen wunderbar erschaffen und noch wunderbarer erlöst» (Oration in der Osternacht).

Alle, die auf die Stimme des Hirten hören und ihre Geschöpflichkeit und Erlösungsbedürftigkeit erkennen, bilden «die grosse Schar aus allen Nationen und Stämmen, Völkern und Sprachen», die Johannes in der Offenbarung beschreibt (2. Lesung). Auch er zeichnet dasselbe Bild wie der Psalm: eine jubelnde Festgemeinde vor dem Thron Gottes.

Dr. theol. Josef-Anton Willa ist Mitarbeiter am Liturgischen Institut der deutschsprachigen Schweiz in Freiburg.