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«Dies ist der Tag, den der Herr gemacht hat»   

Gunda Brüske zum Antwortpsalm (Ps 118) am Ostersonntag SKZ 13/2007

Vorbemerkung: In der Osterzeit tritt an die Stelle der alttestamentlichen Lesung die Apostelgeschichte. Die Auslegungen der SKZ widmen sich seit Beginn des Lesejahrs den alttestamentlichen Texten. Einen Antwortpsalm hat jedes Messformular. Der Reichtum der Antwortpsalmen wird exemplarisch in der Osterzeit erschlossen. Die Auslegungen übernimmt das Liturgische Institut in Freiburg im Üchtland.

Osterpsalm – Psalm 118
«Dies ist der Tag, den der Herr gemacht hat» (Ps 118,24): Diesen Vers wiederholt die Liturgie der Osterwoche viele Male. Psalm 118 ist der Antwortpsalm der Osterwoche. Dabei wird niemand behaupten, Gott habe nur diesen Tag, den Ostertag, geschaffen und alle anderen Tage nicht. Welche Bedeutung hat dieser alttestamentliche und irgendwie «österliche» Psalm?

Ps 118 als liturgischer Gesang

Ein Blick in das Graduale Romanum zeigt die enorme Präsenz von Ps 118: Am Ostersonntag erklingt wie an allen folgenden Tagen V. 24 «Dies ist der Tag, den der Herr gemacht hat; wir wollen jubeln und uns an ihm freuen» (mit V. 1 als Versus, in den folgenden Tagen mit V. 2. 16. 22 f. 26 f.). In der Osternacht erklingt bereits V. 16 f.: «Die Rechte des Herrn ist erhoben, die Rechte des Herrn wirkt mit Macht! Ich werde nicht sterben, sondern leben, um die Taten des Herrn zu verkünden. » Das «Ich» ist im Kontext der Feier zweifelsfrei die Stimme des Auferstandenen: Er wird nicht sterben, sondern leben. Die zum Handeln erhobene rechte Hand ist die des Vaters, der Jesus machtvoll von den Toten erweckt. In Psalm 118 finden Christen der Alten Kirche ihre Ostererfahrung ausgedrückt.

Die Präsenz von Psalm 118 greift noch vor die Osterwoche zurück: Der Ruf «Gesegnet sei er, der kommt im Namen des Herrn» am Palmsonntag ist Zitat von Ps 118,26. Die einzelnen Verse von Ps 118 durchweben die Liturgie vom Palmsonntag bis weit in die Osterzeit hinein (Antwortpsalm am 2. Ostersonntag ABC, am 4. Ostersonntag B, im Anhang als Antwortpsalm für die Osterzeit). Psalm 118 spannt also einen grossen Bogen über die Osterzeit und verbindet die einzelnen Feiern miteinander. Erklingt ein Vers, so schwingt der ganze Psalm mit. Er hält die österliche Freude über den Ostersonntag hinaus wach. Doch welche Bedeutung hat der Psalm genau?

Ps 118 alttestamentlich-rituell

Ps 118 ist eine alttestamentliche Dankliturgie, allerdings nicht im Sinne einer Handlungssequenz am Jerusalemer Tempel, sondern als deren poetische Transformation. Das heisst: Wer nicht im Tempel unter den Pilgern sein kann, aber anderenorts diesen Psalm rezitiert, der gewinnt Anteil an der Wirkmächtigkeit des vom Tempel aus rettenden und segnenden Jahwe. Wer sich im Zitieren in die Aufforderung zum Dank (V. 1–3) mit hineinstellt, wer dann die Erzählung der Not eines Einzelnen und seiner wunderbaren Errettung zuhört (V. 5–18), der kann auch im Medium der Rezitation die Tore zum Tempel mit durchschreiten (V. 19) und schliesslich vor den Altar treten (V. 27). Er wird nach diesem Erfahrungsweg im Glauben die im Tempel oder an anderem Ort Mitfeiernden noch einmal aufrufen, mit ihm zusammen Jahwe zu feiern (V. 28 f.).

Rituelle Rezeption

Es ist nicht überraschend, dass ein so stark dramaturgisch geführter Psalm in die jüdische und in die christliche Liturgie Eingang findet. Beim Pesachseder werden bekanntlich die Hallel-Psalmen Ps 113–118 rezitiert. Die poetische Transformation erlaubt es, sozusagen am Familientisch den Weg dieses Psalms mitzugehen. Die poetische Transformation bleibt auch für die Verwendung in der christlichen Liturgie fundamental. In der Jerusalemer Osternacht um 400 begann die Lichtfeier mit Ps 113, dem ersten Hallelpsalm. Den alttestamentlichen Lesegottesdienst eröffnete mit Ps 118 der letzte Hallelpsalm mit dem Responsorium «Dies ist der Tag, den der Herr gemacht hat.» Ps 118, der durch einen Sprechakt den Weg durch die Tore des Tempels nachzeichnet, steht also auch hier an einer Schwelle: zwischen Lichtfeier und Vigil. Wenn heute in der Osterwoche immer wieder V. 24 rezitiert wird, dann zeigt das: Eine Schwelle ist überschritten in der Osterfeier. Einst stand Israel im Tempel vor seinem Gott, und bis heute treten Juden im Beten von Psalm 118 vor Gott. In der Osterzeit stehen Christen mit der Rezitation von Ps 118 vor dem Gott, der Jesus von den Toten erweckt hat.

Christologische Ebene

Hier verbindet sich die liturgisch-rituelle Bedeutung mit der christologischen. Der Stein, den die Bauleute verwarfen und der zum Eckstein wurde (V. 22), dürfte ursprünglich für Israel gestanden haben. Es spiegelt wohl die Erfahrung als kleines Volk zwischen Machtblöcken eingeengt und doch in der Erwählung durch Jahwe bewahrt zu sein. Die ersten Christen haben in dieser Erfahrung Israels offenbar etwas erkannt, dass ihnen das Geschehen von Kreuz und Auferstehung deutete: «Der Stein, den die Bauleute verwarfen, er ist zum Eckstein geworden. Das hat der Herr vollbracht, vor unseren Augen geschah dieses Wunder» (V. 22 f.). Die christologische Lesart begegnet im NT dreimal: 1. Als Petrus sich für eine Krankenheilung rechtfertigen muss, erklärt er, der Kranke sei im Namen Jesu Christi geheilt worden, «den ihr gekreuzigt habt und den Gott von den Toten erweckt hat. … Er ist der Stein, der von euch Bauleuten verworfen wurde, der aber zum Eckstein geworden ist» (Apg 4,11). In das Zitat von Ps 118,22 wird ein Personalpronomen eingefügt und damit über die christologische Lesart hinaus der Sinn verändert: Von euch wird der Eckstein Christus verworfen. (Es ist allerdings bemerkenswert, dass das Messbuch Pius V. die Verse 22 f. selbst am Samstag der Osterwoche nicht vorsah, an dem 1 Petr 2,1–10 gelesen wurde.) 2. Ähnlich im Gleichnis von den bösen Winzern: Jesus deutet den Mord am Sohn des Weinbergbesitzers mit diesem Wort (Mt 21,42 par). 3. In 1. Petr 2,4–8 erscheint Christus als lebendiger Stein (Jes 28,16). Christen, die sich zu einem geistlichen Haus aufbauen lassen, sind gleichfalls lebendige Steine. Für jene aber, die nicht glauben, ist Christus als Eckstein (Ps 118,22; Jes 8,14) zum Stein des Anstosses geworden, an dem sie zu Fall kommen. Wer am Eckstein nicht scheitert, gehört zur königlichen Priesterschaft, zum neuen Volk Gottes.

Die christologische Lesart, so naheliegend sie für die ersten Christen sein musste, beginnt, sich gegen das erste Volk Gottes zu wenden, das einst und noch heute mit diesem Psalm seinem Gott dankt.Wenn heute Ps 118 mit Vers 22 f. rezitiert wird, steht neutestamentliche Glaubenserfahrung dahinter. Gleichzeitig darf nicht unbewusst ein antijüdischer Ton in christlichem Singen und Beten mitschwingen. Wie kann das verhindert werden? Vielleicht in Anknüpfung an die ursprüngliche Erfahrung Israels: Israel, das zwischen Machtblöcken eingeengte Volk, ist als von Gott erwähltes Volk Eckstein. Jesus hat Anteil erhalten an dieser Grunderfahrung Israels im Zerriebenwerden, aber auch an der Erfahrung des rettenden Gottes. Wie Israel dadurch zum Eckstein wurde, so auch Christus. Er steht damit in der langen Erfahrungsgeschichte Israels mit seinem Gott.
Diese Erfahrung der Rettung ist Grund für die 50 Tage anhaltende österliche Freude.

Dr. Gunda Brüske ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Liturgischen Institut der deutschsprachigen Schweiz in Freiburg.