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Umsturz ins Heil – Danklied   

Adrian Schenker zum Antwortpsalm (Ps 29 (30)) am 3. Ostersonntag SKZ 14-15/2007

Eigenart und Aufbau des Liedes

In vierundzwanzig Verszeilen entfaltet dein Mensch seine Dankbarkeit für seine Rettung aus dem sicheren Untergang. Die Liturgie wählt aus dieser Gesamtheit von vierundzwanzig Zeilen (von denen immer ein Verspaar einem ganzen Psalmvers entspricht) aus. Der Psalm schwingt zwischen Gegenwart und Vergangenheit hin und her. Jetzt, in der Gegenwart ist der betende Mensch gerettet und tanzt jauchzend und singend umher. Damals, in der Vergangenheit hat er einen unerhörten, völlig unerwarteten Sturz erlitten (V. 7–8).

Der Dank rahmt den Psalm ein. Er eröffnet ihn (V. 2–6) und beschliessst ihn (V.13). In der Mitte erinnert sich der zu seinem eigenen grossen Erstaunen entronnene Mensch des Furchtbaren, das er durchgemacht hat (V. 7–12).

Der Dank nimmt spontan die Form des gesungenen und gespielten Liedes und des Tanzes an. Er muss schön sein, weil zum Dank das Ästhetische gehört, ohne das es keine Freude und Fülle des Lebens gibt. Dank empfindet auch das Bedürfnis, sogleich andere anzusprechen: Er überspringt die Grenze vom Individuum zu den andern im Zeugnis. Die Bibel nennt dieses Reden über das Erfahrene Bekenntnis (V. 5, 2.Verszeile, wo die Einheitsübersetzung für «bekennen» die Wiedergabe «preisen» wählt, und V. 12, letztes Wort des Verses). Denn der Davongekommene kann nicht anders als allen von seiner unerhörten Erfahrung zu erzählen. Das Bekenntnis fällt mit dem Dank zusammen. Das Wort für «bekennen» schliesst jeweils die beiden Dankstrophen ab (V. 5 Ende,V.12 Ende), ja es ist das letzte, nachhallende Wort des ganzen Psalms überhaupt.

Auf diese Weise interessiert der Dank des einzelnen Menschen für seine Rettung eine ganze Gemeinschaft von Zuschauern, die begierig von dieser Befreiung Kenntnis nehmen und selbst beginnen, auf den befreienden Gott auch für sie selber zu hoffen.

Erfahrungen drohenden Untergangs in der Vergangenheit
Es sind fünf Leidenserfahrungen, die im Psalm aufblitzen. Die erste ist der Sturz in den Tod. Der Mensch berichtet ja, wie er bereits in der Tiefe, in der «Depression» (V. 2, 1. Verszeile), im Scheol (in der Totenwelt), in der Grube (V. 4), im Staub am Boden, über den die anderen hinwegschreiten (V. 10, 2. Verszeile), in seinem Blut, das das gewaltsame Lebensende bezeichnet (V. 10, 1. Verszeile), im Grab (ebd.) lag. Der Triumph der Feinde ist die zweite Erfahrung (V. 2). Es gab Leute, die es genossen, dass er zugrunde ging. Dazu kam auch Krankheit, die ihn verzehrte (V. 3), und Traurigkeit und Tränen, die seine Freude zerstörten (V. 6, 2. Verszeile und V.12, 2. Verszeile). Aber er hatte auch Gott verloren. Denn dieser hatte sein Gesicht von ihm abgewandt (V. 8, 2. Verszeile), weil er zornig war (V. 6, 1. Verszeile), so dass Entsetzen den Menschen erfasste (V. 8).

Das ganze Leiden der Menschen steht vor uns, mit wenigen Bildern vor uns hin projiziert. Aber auch die ganze Passion Jesu. Es ist die Welt des Todes und der Brutalität, deren die Menschen fähig sind, und eine Welt ohne jede Geborgenheit.

Erfahrungen unverhoffter geschenkter Rettung

Was hat Gott denn getan, um diesen Menschen zu retten? Er hat ihn aus der Tiefe heraufgeholt, wie man einen Eimer voll Wasser aus einem tiefen Brunnenschacht heraufwindet (V. 2, 1. Verszeile), er hat ihn emporgeholt (V. 4, 1. Verszeile), er hat ihn geheilt und ihm Lebenskraft eingepflanzt (V. 3, 2. Verszeile und V. 4, 2. Zeile). Dann hat er ihn einen Morgen voll Jubel erleben lassen (V. 6, 2. Zeile), so dass er umhertanzte (V. 12, 1. Zeile). Damit nicht genug, Gott hat ihm wie eine Mutter oder wie eine Schneiderin das Sackgewand der Trauer ausgezogen und ihm dafür einen prächtigen Gürtel, den Gürtel der Freude, um die Hüften geschnallt (V.12, 2. Zeile).

Das Kernwort steht in der ersten Verszeile von V.12: «du hast mein Klagen in Tanzen umgewandelt». Der Wandel steht im Mittelpunkt. Er geschah über Nacht (V. 6, 2. Zeile). Fast könnte man sagen: Ein Umsturz, eine Revolution geschahen zwischen Nachteinbruch und Morgen, denn das hebräische Wort legt eine radikale Umwandlung nahe.

Haben wir diese Art des Umsturzes ins Heil schon einmal erfahren? Es ist die Erfahrung der Auferstehung von Jesus Christus am Morgen des Ostertages. Der Psalm ist wie ein Kommentar des Auferstehungsgeschehens.

Leben in seiner Güte

Zweimal spricht der betende Mensch vom Wohlgefallen Gottes, das in der Einheitsübersetzung mit «Güte» übertragen ist (V. 6, 1. Verszeile und V. 8, 1. Zeile).Wohlgefallen ist Wollen. In solchem Wohlgefallen Gottes ist Leben (V. 6). Dieses Wort meint, dass Gott ihn, den Betenden, nicht missen möchte. Er bedeutet ihm viel. Ohne ihn kann er nicht sein. Daher will er ihn. Das ist der Grund, warum er ihn rettet. Er will ihn ja auf keinen Fall verlieren. In diesem Wohlgefallen ist Leben, ja Ewigkeit, weil Gott selbst ewig ist (V. 12, vorletztes Wort des Psalms).

Der Psalm begründet so theologisch den innern Grund der Auferstehung Jesu. Gott hängt an seinem Sohn. Wie könnte er ihn für immer verlieren? Er bedeutet ihm viel zu viel, als dass er ihn für immer verlieren könnte. Daher setzt er seine schöpferische Macht ein, um ihn für sich zu bewahren. Es ist seine Macht, mit der er den Menschen Jesus, seinen göttlichen Sohn, als ganzen Menschen ins Leben zurückführte, das die Menschen für immer auslöschen wollten, als sie ihn ans Kreuz nagelten.

Der Psalm erklärt gleichzeitig, warum auch wir Menschen mit Christus auferstehen werden. Denn jeder betende Mensch kann mit Recht die Worte des Psalms sich aneignen. Er soll sie sich aneignen. Er weiss, dass er Gott viel bedeutet, und dass Gott nicht ohne ihn sein kann. «Gott ist ein Gott der Lebenden, nicht der Toten», denn zu Toten gibt es ja keine volle lebendige Beziehung mehr.

Sackgewand oder Sack?

Augustinus hat das lateinische Wort «saccus», das in seiner altlateinischen Psalmenübersetzung für das hebräische Wort «Sack», «Sackgewand» stand, nicht als Trauergewand gedeutet, sondern als einen Sack oder als einen «sacculus», einen Geldbeutel, den Gott zerriss, um das Lösegeld für die Menschen zu bezahlen (Mk 10,45 par Mt 22,28), so z.B im Sermo 336, PL 38,1473D. Bernhard von Clairvaux und Ruppert von Deutz haben die Deutung aufgenommen und wiederholt. Diese Deutung ist wie eine Illustration des «Wohlgefallens Gottes» in V. 6 und 8: Der Mensch, und in besonderem Masse der Mensch, der sein Sohn ist, ist Gott viel zu teuer, als dass er es ertrüge, ohne ihn zu leben. Kein Preis ist ihm zu hoch, um ihn sich zu bewahren.

Pater Adrian Schenker OP ist emeritierter Professor für Altes Testament an der Universität Freiburg i.Ü. Er beschäftigt sich weiterhin mit Arbeiten über Textkritik und biblische Theologie des Alten Testaments und ist als Seelsorger tätig.