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Sich wandeln   

Ursula Rapp zur Lesung am Karfreitag SKZ 10/2008

Alttestamentliche Lesung:: Jesaja 52,13–53,12
Evangelium: Joh 18,1–19,42

Mit Israel lesen

Im Lesungstext Jes 52,13–53,12 singt der Prophet ein viertes Mal (42,1–9; 49,1–13; 50,4–10) vom Knecht Gottes, jener mehrdeutigen und zweifelhaften Hoffnungsgestalt des exilischen Israel. In diesen Texten ist nicht eindeutig, ob damit eine individuelle Person oder ein Kollektiv, etwa das Kollektiv Israel, gemeint ist. Die christliche Deutung, die Lieder würden auf Jesus anspielen, ist nur eine mögliche, die die vielfältigen Aspekte der Gestalt auf einen hin reduziert.

Im Hintergrund des «Gottesknechtes» stehen Israels Erfahrungen wiederholter Eroberung, Ausplünderung, Verschleppung, Trennung von Familien, Gewalt und letztlich das Exil. Die Prophetinnen und Propheten der Schule Deuterojesajas besingen zwei Gestalten, an denen sie das Leid der Menschen, aber auch die darin verborgene Hoffnung darstellen. Die Gottesknechtlieder sind eingebettet in Lieder über die Frau oder Tochter Zion. Mit beiden Gestalten konnten sich die einzelnen Menschen Israels identifizieren oder sich auch als ganzes Volk kollektiv wieder erkennen. Beide Gestalten vermögen den geschundenen Menschen neue Würde zu verleihen, weil sie die Machtverhältnisse und die Ordnung der Welt umkehren.

Das vierte Gottesknechtlied ist eingebettet zwischen zwei Zionsliedern. Alle drei Lieder beginnen mit einem Aufruf: Jes 52,1 ruft Zion zu einem neuen Exodus mit dem Ruf: «Wach auf!», Jes 52,13 ruft zum Sehen auf und laut 54,1 soll die Unfruchtbare jubeln, weil sie Kinder haben wird. Während die Zionslieder jeweils dazu aufrufen, genau so zu handeln, als wäre die Lage gerade nicht so aussichtslos, also zu paradoxem Handeln ermutigen, ruft Gott in 52,13 einfach nur zum Hinsehen: «Seht, mein Knecht hat Erfolg.» Auch das hat etwas Paradoxes, denn der «Knecht» ist kein Erfolgstyp. Er ist geschunden, ausgebeutet und misshandelt worden und Gott kündigt an, die Völker würden nun Staunen und die Könige verstummen. Am Knecht zeigt sich also die Umkehrung der ungerechten Machtverhältnisse zu seinen eigenen Gunsten.

In 53,1–11a folgt dann eine Selbstreflexion der Hinsehenden, die zeigt, dass das abverlangte Hinschauen schwierig ist. Schon beim Lesen muss man sich fast zwingen, die Beschreibung des Elends dieser Gestalt auszuhalten: «Er hatte keine schöne und edle Gestalt, sodass wir ihn anschauen mochten» (53,2). Das so schwierige Hinsehen führt zu einer Erkenntnis, die wieder paradox scheint: Was die Gestalt so schrecklich macht, sind die eigenen Verbrechen der Hinsehenden, die Schuld der Täterinnen und Täter, die den Knecht in diese Qual treiben (53,4–5): «Doch er wurde durchbohrt wegen unserer Verbrechen, wegen unserer Sünden zermalmt. Zu unserem Heil lag die Strafe auf ihm, durch seine Wunden sind wir geheilt» (53,5). Eine solche Einsicht erlangen nicht die passiven Zuschauer, denen die Sensation des Leids «der anderen» zum Spektakel dient. Dieses Hinsehen, das Menschen verwandelt, leidet mit, was hier in dem Abscheu und der genauen Beschreibung der Wahrnehmung ausgedrückt wird.

Nach dieser Einsicht wird in 53,6–9 das Leiden und Dulden dieser Gestalt noch einmal mit anderen Qualen beschrieben. Daraufhin erfolgt die Schilderung des angekündigten Erfolges: Nachkommen wird der Knecht haben, langes Leben (53,10), Licht wird er erblicken und erkennen (53,11). Die Gestalt des gerechten Knechtes (53,11.12) hat die Schuld der Vielen auf sich genommen (53,12) und ist zum Schuldopfer geworden. Deshalb wird sie einen Platz unter den Vielen bekommen. Hier liegt das dritte Paradoxon: Das Leiden ist freiwillig.

Das vierte Gottesknechtlied schildert nicht Gottes Eingreifen in die Geschichte und auch nicht das Handeln des Knechtes, wie das die anderen Gottesknechtlieder tun. Vielmehr wird am Knecht gehandelt und vor allem auch beschrieben, wie sich die Beziehung des «Wir» der Völker zu dem Knecht verwandelt: Es ist die Wandlung von Entsetzen und Abscheu zu der Erkenntnis der eigenen Verbrechen.

Vor dem Hintergrund der tiefen Krise Israels im Exil, dem Verlust von Land, Besitz und vielleicht auch des Vertrauens auf Gott, mag dies die letzte Hoffnung sein: dass der Wahnsinn des Leidens einen heilsamen Sinn für diese Welt hat. Die Qual, die Israel aushält, ist das Tragen der Schuld der Unterdrücker.

Diese Sicht Israels hat im auch während der Verfolgungen des jüdischen Volkes im Hochmittelalter in Europa geholfen. Seit dem jüdischen Bibelkommentator Rabbi Schlomo ben Jizchak (Raschi) sah man in der Gestalt des Gottesknechtes eine Allegorie für Israel unter den Völkern.2 Besonders beeindruckend ist Raschis Deutung von Jes 53,9: «Bei den Ruchlosen gab man ihm sein Grab (…) obwohl er kein Unrecht getan hat und kein trügerisches Wort in seinem Mund war.» Raschi verstand diesen Vers auf die Massenvernichtungen all jener jüdischen Menschen hin, die sich vor die Wahl «Taufe oder Tod» gestellt für die zweite Möglichkeit entschieden: besser zu Unrecht leiden als Unrecht tun. Auch in dieser hoffnungslosen Situation diente das vierte Lied vom Gottesknecht einem ganzen Volk, die eigene Würde und Verantwortung nicht aufzugeben.

Raschi kennt auch eine zweite Deutung des Gottesknechts: Darin hat das Leiden des Volkes eine reinigende Funktion für die Schuld der vorhergehenden Generationen. Das hat etwas mit gegenseitiger Verantwortung zu tun. Heute würde man vielleicht sagen: Die Schuld oder die Probleme der Eltern setzen sich verschiedentlich fest bei den Kindern.

Für das «stellvertretende Leiden» hat es unzählige Deutungen gegeben. Es geht dabei um die Übernahme von Schuld, die so gross ist, dass sie für die Täterinnen und Täter zu viel ist. Durch das Mittragen der Schuld wird wieder Handlungsspielraum und Neubeginn für die Schuldigen geschaffen.

Allerdings bergen solche Deutungen zwei Gefahren. Die eine besteht darin, dass Leiden zu funktionalisieren für die Rettung der Täter. Das wäre ein grosses Unrecht an den Opfern. Raschi hält deshalb die zweite Deutung vom Tragen der Schuld der eigenen Vorfahren für ebenso wichtig. Die zweite Gefahr besteht darin, zu meinen, die Schuld der Täterinnen sei fortgenommen. Das wäre den Leidenden gegenüber grausam und würde die Schuldigen aus der Verantwortung nehmen.

Mit der Kirche lesen

Am Karfreitag blicken christliche Menschen auf das Leid Jesu. Sie sind aufgerufen, sich vom Hinsehen wandeln zu lassen, ähnlich wie es der Jesajatext beschreibt. Denen, die es aushalten hinzusehen, zeigt sich dann, wo sie Täter und Täterinnen geworden sind und unschuldige Opfer produziert haben.

Vielleicht ist die Deutung der Passion Christi im Licht des Gottesknechtes die Spitze und letzte Konsequenz seiner Umkehrpredigt, die sagen will, dass Gottes Vergebung und Gnade immer schon vor unserer (…) stehen. Das ist letztlich nicht mehr als die Ermöglichung eines Neubeginns, das Eröffnen neuer Handlungsräume – wie das (Mit-)Tragen der Schuld der anderen.

Dr. Ursula Rapp, Mutter von drei Kindern, ist Oberassistentin für Gender Studies am Lehrstuhl für Altes Testament an der Universität Luzern.

1 Die Karfreitagstexte der Lesejahre C und A sind identisch. Wir verweisen deshalb auch auf den Beitrag von Dieter Bauer in: SKZ 175 (2007), 196.
2 Vgl. Daniel Krochmalnik: Parschandata. Raschi und seine Zeit. Materialdienst Evangelischer Arbeitskreis Kirche und Israel in Hessen, Nassau 4 (2005).