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Nichts ist unmöglich!?   

Dieter Bauer zur Lesung am 5. Fastensonntag SKZ 9/2008

Alttestamentliche Lesung: Ez 37,12b–14
Evangelium: Joh 11,1–45

Ein Toter: er liegt bereits vier Tage im Grab. Und «er riecht schon» (Joh 11,39). Trotzdem erzählt das heutige Evangelium davon, dass er wieder aufsteht.

Ein ganzes Volk: seines Königs, seines Landes und seines Kultes beraubt, muss es ein Dasein in der Fremde führen. Die Verschleppten sagen untereinander: «Ausgetrocknet sind unsere Gebeine, unsere Hoffnung ist untergegangen, wir sind verloren» (Ez 37,11). Lebendig tot. Und doch kann es wieder aufstehen: «ein grosses, gewaltiges Heer». Nichts scheint unmöglich in der Bibel.

Mit Israel lesen

In drastischen Bildern beschreibt der Exilsprophet Ezechiel im Kapitel 37 seine Vision: eine «Ebene ... voll von Gebeinen ... sehr viele über die Ebene verstreut ... ganz ausgetrocknet» (V. 1f ). Toter geht nicht! Und die Frage, die sich dem Propheten stellt, kann er nicht beantworten: «Können diese Gebeine wieder lebendig werden?» (V. 3). Natürlich nicht, sagt der gesunde Menschenverstand. Tot ist tot. Wer mit den Totengebeinen gemeint ist, ist klar: «Diese Gebeine sind das ganze Haus Israel» (V. 11). Zweimal hatten sich die Judäer mit den mächtigen Babyloniern angelegt. Zweimal war Jerusalem erobert worden. Mehr als zweimal kam es zu Verschleppungen der Bevölkerung nach Babylonien. Wo sollte es da noch Zukunft geben? Die Antwort war zur Zeit Ezechiels so klar wie heute: «Herr und Gott, das weisst nur du» (V. 3).

Und doch: das Volk wird heimkehren. In diese toten Knochen wird wieder Leben einziehen, wieder drastisch beschrieben vom Propheten: Da «waren plötzlich Sehnen auf ihnen und Fleisch umgab sie und Haut überzog sie» (V. 8). Letztlich ist es aber erst der Geist Gottes, der sie lebendig macht, dass sie aufstehen (V. 10). Es ist derselbe Geist, dieselbe Lebenskraft Gottes, die den Menschen überhaupt und auch alle anderen Lebewesen am Leben erhält (Gen 2,7; Koh 3,20 f.).

War schon dieses Wiedererwachen des Volkes im Exil und seine Rückkehr in die Heimat ein Wunder gewesen, so setzt sich doch bereits im frühen Judentum auch ein wörtliches Verständnis dieser «Totenerweckung» durch. «Ich öffne eure Gräber und hole euch, mein Volk, aus euren Gräbern herauf» wird nicht mehr als gleichnishafter Parallelismus zum erklärenden zweiten Versteil («Ich bringe euch zurück in das Land Israel»; Ez 37,12) verstanden, sondern als reale Möglichkeit nach dem Tod. Und der Talmud parallelisiert dieses «Öffnen» der Gräber mit anderen «Schlüsseln», die Gott in Händen hält:

Es sprach Rabbi Jochanan: Drei Schlüssel befinden sich in der Hand des Heiligen, gelobt sei er, und sind nicht in die Hand eines Gesandten übermittelt worden, und diese sind: der Schlüssel der Regenfälle, der Schlüssel der Gebärenden, der Schlüssel der Auferstehung der Toten. Der Schlüssel der Regenfälle, wie geschrieben steht: Der Ewige wird dir seinen reichhaltigen Speicher, den Himmel, öffnen, damit das Land Regen hat zur Jahreszeit (Dtn 28,12). Den Schlüssel der Gebärenden – woher? Wie geschrieben steht: Und Gott gedachte der Rachel und Gott hörte auf sie und öffnete ihren Mutterschoss (Gen 30,22). Der Schlüssel der Auferstehung der Toten – woher? Wie geschrieben steht: Ihr sollt wissen, dass ich der Ewige bin, wenn ich eure Gräber öffnen werde (Ez 37,13) (bTa’an 2a.b). Es ist klar: Alle drei Bereiche – Wetter, Geburt und Auferstehung der Toten – hat der Mensch nicht in der Hand. Was der Talmud hier zusammenbringt, sind allesamt Bilder der Schöpfungsmacht Gottes, dieser Kraft, die immer wieder auch als Geistkraft (hebr. ruach) erscheint.

Doch: Auch wenn es letztlich Gott ist, der durch den Propheten seinem Volk diesen Geist einhaucht: So losgelöst vom Wirken des Menschen wird man das wohl doch nicht sehen dürfen. Es ist die «Auferstehung eines Volkes», von der hier die Rede ist, und nicht von der individuellen Auferstehung des Einzelnen.

Mit der Kirche lesen

Gerade im Hinblick auf weit verbreitete christliche Auferstehungsvorstellungen, die leider oft aus nichts anderem bestehen als dem (egoistischen) Wunsch, dass möglichst alles auch nach dem Tod so (gut) weitergehen möge wie bisher, scheint mir diese Nuance wichtig zu sein: Auferstehung ist keine Privatangelegenheit. Auferstehung ist Sache einer Gemeinschaft.

Die Lazarusgeschichte des Johannesevangeliums kann das sehr schön zeigen. Es ist nämlich eine pure Beziehungsgeschichte. Lazarus ist der Freund Jesu (Joh 11,3), aber auch seiner Jünger («unser Freund»; V. 11). Seine Schwestern nehmen Kontakt mit Jesus auf, denn «Jesus liebte Marta, ihre Schwester und Lazarus» (V. 5). Thomas ist sogar bereit, mit Lazarus zu sterben (V. 16) und fordert die anderen Jünger dazu auf, es ihm gleich zu tun. Jesus nimmt der Tod seines Freundes so mit, dass er «im Innersten erregt und erschüttert» ist und schliesslich weint. «Seht, wie lieb er ihn hatte!», sagen die Umstehenden (VV. 33–38).

Diese Liebesgeschichte ist es, die Lazarus zurück ins Leben holt. Seine Umgebung muss ebenfalls ihren Teil dazu beitragen, denn er ist geh- und sehbehindert: «Seine Füsse und Hände waren mit Binden umwickelt, und sein Gesicht war mit einem Schweisstuch verhüllt» (V. 44). Das muss sich ändern, und deshalb fordert Jesus auf: «Löst ihm die Binden und lasst ihn gehen!» (Joh 11,44). Alle übernehmen Verantwortung dafür, dass Lazarus (wieder) leben kann und ermöglichen seine Auferstehung.

Angesichts dieser Tatsache ist es müssig, danach zu fragen, ob das nun symbolisch oder real gemeint ist. Natürlich kann man aufzeigen, wie diese Lebensmacht Gottes, die sich in den Heilungswundern Jesu ausdrückt, vom ältesten zum jüngsten Evangelium immer grösser und prächtiger geschildert wird: von der (womöglich) scheintoten Tochter des Jairus (Mk 5,21–24.35–43) bis zum ganz sicher toten Lazarus des Johannesevangeliums. Aber viel wichtiger scheint mir zu sein, bei sich selbst genau hinzuschauen, warum wir solche Angst davor haben, von einer Grenzüberschreitung in Sachen Sterben und Tod zu reden. Oder dies gar christlich zu verkünden.

Wie oft wird denn bei uns der Tod verharmlost – selbst bei Beerdigungen? Man erinnert z. B. nur an die schönen Stunden mit Verstorbenen und v. a. an die Leistungen der Lebenden und Toten. Man spricht davon, dass Christus ja die «Auferstehung und das Leben» sei (Joh 11,25) und dass er Licht in unser Leben bringt. Es werden symbolische Bilder gebraucht wie das von der Sonne oder dem Hoffnungssymbol des Regenbogens. Manchmal hat man fast das Gefühl, den Hinterbliebenen würden Plüschtiere überreicht, wie man sie sonst den kranken Kindern bringt oder auch an Kindergräbern findet. Wenn aber der Tod nicht ernst genommen wird in seiner ganzen grausamen Banalität, dann kann auch das Leben nicht verkündet werden. Deshalb sieht Ezechiel das Leichenfeld wie in einem Horrorfilm. Und deshalb «riecht» Lazarus bereits. Da wird nichts beschönigt. Aber erst angesichts dieser erschreckenden Realität von Sterben und Tod wird deutlich, was wir an Leben zu verkünden haben. Übernehmen wir die nötige Verantwortung dafür.