Wir beraten

Gott ist nicht in unserer Mitte   

Peter Zürn zur Lesung am 3. Fastensonntag SKZ 6-7/2008

Alttestamentliche Lesung: Ex 17,3–7
Evangelium: Joh 4,5–42

«Gott ist in unserer Mitte». Ein tröstender und stärkender Zuspruch. Aber liegt darin nicht auch eine Gefahr? Die Gefahr der Festlegung Gottes. Die Gefahr, dass Menschen über Gott verfügen, indem sie definieren, was die Mitte ist?

Mit Israel lesen
Nach der Befreiung aus der Unterdrückung wird das Volk Israel mit den widrigen Lebensbedingungen in der Wüste konfrontiert und beginnt gegen Moses zu murren (Ex 15,22–17,7). Moses wendet sich an Gott und der verschaff t dem Volk auf wunderbare Weise Hilfe. Die Auseinandersetzungen spitzen sich dramatisch zu, schliesslich fürchtet Moses um sein Leben (Ex 17,4). Der Lesungstext beendet die Reihe der sogenannten Murrgeschichten mit der Frage des Volkes: «Ist Gott in unserer Mitte oder nicht?» (17,7). Die Antwort des Textes lautet: Nein. Gott ist nicht in der Mitte. Im Gegenteil: Gott ist draussen, ausserhalb des Lagers. Entsprechend wird Moses von Gott angewiesen, am Volk vorbeizugehen (17,5). An einem Felsen – «dort drüben» – findet die Begegnung mit Gott statt, beginnt das rettende Wasser zu fliessen (17,6).

Die jüdische Auslegung interessiert sich sehr für diesen Felsen. Sie erkennt in ihm einen mobilen Felsen, der dem Volk auf der weiteren Wüstenwanderung folgt. Der Midrasch erzählt: «Nachdem Moses am Berg Horeb den Felsen schlug und dieser Wasser gab, verwandelte sich der Felsen zu einem runden Block, der Israel vierzig Jahre in der Wüste begleitete» (Schabbat 35a). Dieses Motiv ist auch dem Schrift gelehrten Paulus bekannt, darum schreibt er in 1 Kor 10,4 unter Bezug auf die Ex 17: «denn sie tranken aus dem lebenspendenden Felsen, der mit ihnen zog».

Ausserdem bekommt dieser wasserspendende Fels einen Namen: Brunnen der Mirjam. Das hat mit der Parallelerzählung in Num 20,1–11 zu tun. Dieser Text lokalisiert die Ereignisse in Kadesch und berichtet: «Dort starb Mirjam und wurde auch dort begraben.» Unterstützt wird die Verbindung zu Mirjam durch Num 21,16–18. Dort werden Stationen der Wüstenwanderung aufgezählt, eine davon ist Beer, Brunnen. Dieser Brunnen wird in Verbindung mit dem Felsen von Num 20 gebracht (vgl. Num 21,16 und 20,8). Und dann wird ein Lied zitiert, das das Volk an diesem Brunnen sang. Es ruft die Erinnerung an das Mirjamlied aus Ex 15,20 wach. Der Midrasch zu Num 21,16–18 erzählt, dass der Felsen, der Wasser gab, zu Ehren der Schwester Moses den Namen «Der Brunnen Mirjams» bekam. «Der Mirjamsfelsen stieg mit den Kindern Israels auf Berge und stieg mit ihnen in die Täler hinunter. Wo Israel weilte, weilte auch er (. . .). Der Mirjamsbrunnen umgab das ganze Lager Israels und tränkte die ganze Wüste» (Schabbat 35a).

Schliesslich folgt dieser Fels nicht nur dem Volk der Wüstenzeit, sondern jedem Menschen: In Ex 17,6 spricht Gott zu Mose: «Ich werde daselbst auf dem Felsen vor dir stehen.» Ein Midrasch zu diesem Vers folgert: «An jedem Platz, wo ein Mensch seinen Fussabdruck hinterlässt, werde ich ebenfalls stehen.» Vielleicht ist ja das bekannte Gedicht von Margaret Fischback Powers «Footprints» (dt. Spuren im Sand) davon inspiriert.1

Der Ort der Gottesbegegnung ist also überall – nur an einem Ort nicht: in der Mitte. Das hebräische Wort für Mitte geht auf die Grundform qrb zurück, das «sich nähern», «nahe herantreten» bzw. «nahebringen» bedeutet. Das Substantiv meint auch «Einge weide», «Inneres», «feindliche Annäherung» und «Kampf». Was ist damit über Gott ausgesagt, der nicht in der Mitte ist? Er bleibt in Distanz, bleibt unverfügbar, letztlich ein Geheimnis. Das erfährt Moses schon bei seiner Berufung: «Komm nicht näher heran! Leg deine Schuhe ab; denn der Ort, wo du stehst, ist Heiliger Boden» (Ex 3,5; vgl. SKZ 175 [2007], 127). Auch wenn sich dieser Gott mit seinem Namen offenbart, schützt er ihn vor Missbrauch (Ex 20,7). Der Missbrauch besteht in erster Linie darin, über den Namen Gottes zu verfügen, ihn für eigene Interessen zu brauchen. Dieser Gott ist auch keine Sache des menschlichen Inneren, keine Bauch- und Gefühlssache, sondern ein Gegenüber, ein öffentlicher Gott, der sich der Auseinandersetzung stellt. Welchen Zusammenhang gibt es schliesslich zwischen «Mitte» und «feindlicher Annäherung»? Beides rückt ja in unserer Erzählung ganz eng zusammen. An die Frage des Volkes schliesst sich direkt die erste militärische Auseinandersetzung während der Wüstenwanderung an: der Kampf gegen Amalek, der zum Prototyp der Verfolger Israels wird (Ex 17,8–16; vgl. SKZ 175 [2007], 688). Sind Menschen, die sich auf eine Mitte fixieren, die das, was ihren Zusammenhalt und ihre Identität ausmacht, ausschliesslich in ihrer Mitte suchen, besonders gewaltgefährdet? Die rabbinische Tradition hat den engen Zusammenhang wahrgenommen, indem sie festgestellt hat, dass der Zahlenwert der Buchstaben von «Amalek» und von «Zweifel» (hebr. spq) identisch ist (240). Ist es aber wirklich der Zweifel des Volkes, der Krieg und Gewalt nahe bringt? Ist es nicht vielmehr die Fixierung auf die Mitte? Das Festlegen Gottes auf einen bestimmten, festgelegten Ort innerhalb der eigenen Verfügungsmacht?

Der Gott dieses Geschichte ist nicht in der Mitte. Er ist ausserhalb, er erfordert Aufbruch und Vorübergehen, er ist der Gott des Exodus. Exodus ist kein einmaliges Ereignis. Christoph Dohmen spricht von der Existenzweise des Exodus, die sich durch die ganze Bibel zieht.2 Dabei stehen der Exodus der äusseren Bewegung und der Exodus der inneren Haltung in enger wechselseitiger Beziehung. Der Exodus führt in die Wüste. Die Wüstenzeit wird in Israel zur Chiffre für die stete Erinnerung an die besondere Beziehung zu Gott, der befreit, weiterführt und Zukunft gibt – aber nicht in der Mitte stehen bleibt. Für die Nachgeborenen, die das verheissene Land erreichen, sind Exodus und Wüstenzeit nicht zu Ende. Der Exodus ist das dauerhafte Unterwegssein zwischen Schon und Noch-nicht.

Indem die rabbinische Tradition vom Brunnen der Mirjam spricht, lenkt sie die Aufmerksamkeit von Moses ab und richtet sie auf Mirjam. In Mi 6,4 wird sie gleichberechtigt mit Mose und Aaron als Anführerin beim Exodus genannt. Später werden ihre Leitungsfunktion – und die von Frauen insgesamt – verdrängt. Die Mitte wird mit Mose und Aaron männerzentriert besetzt. Trotzdem erhalten sich Spuren der Würdigung Mirjams – befreiende Gegentraditionen.

Mit der Kirche lesen

Die Erzählung im Johannesevangelium von der Begegnung am Brunnen erzählt vom Verlassen der Mitte, von zentralen Orten der Gottesbegegnung («weder auf diesem Berg noch in Jerusalem»; 4,21). Die Erzählung beginnt mit einem Aufbruch und führt weg von gewohnten Orten. Auch im Namen Jakob klingt die biblische Existenzweise des Exodus an. Die samaritanische Frau und die Jünger sehen im Verhalten Jesu das Überschreiten gewohnter Abgrenzungen (4,9 und 27). Die Frau am Brunnen wird zur Verkünderin und Missionarin. Mit der Würde und Funktion, die sie in der Geschichte zugesprochen bekommt, wird die Mirjamtradition aus der herrschenden Mitte heraus fortgeführt.

1 Im Internet zu finden unter www.wer-ohren-hat-der-hoere.de/gebeteundlebensweisheiten/spurenimsand/index.html.
2 Christoph Dohmen: Leben im Aufbruch, in: Bibel und Kirche 4/2007, Exodus, 206–209.