Wir beraten

«Es gibt Zeiten, in denen sich die Distanz verringert»   

Peter Zürn zur Lesung am Fest der Heiligen Familie SKZ 51-52

Alttestamentliche Lesung: Sir 3,2–6.12–14
Evangelium: Mt 2,13–15.19–23

Vor einem Jahr hat Winfried Bader an dieser Stelle (SKZ 50/2006, 837) die aktuelle Situation von Familien beschrieben: vielfältige neue Formen des Zusammenlebens, völlig überzogene gesellschaftliche Ansprüche . . . Daran hat sich nichts geändert. Ich möchte hier den Blick besonders auf die Väter richten. Sie sind Teil der Familie, auch sie leben ihre Väterlichkeit in vielfältigen Formen, auch sie stehen (und leiden) unter hohem Erwartungsdruck. Gibt es biblische Orientierungshilfen für heutige Väter?

Mit Israel lesen

Im Lesungstext schreibt Jesus Sirach über das richtige Verhalten von Söhnen gegenüber ihren Eltern. Der Schriftgelehrte und Weisheitslehrer schreibt als Mann für Männer. Dabei legt er das Gebot der Elternehrung aus dem Dekalog aus (Ex 20,12; Dtn 5,16). Die biblischen Weisungen zum Umgang mit den Eltern richten sich nicht an kleine Kinder, sondern an Erwachsene. Ihr Ziel ist es, die Versorgung der Eltern auch im Alter zu sichern. Die Voraussetzungen dafür werden aber bereits in der Kindheit geschaffen. Der Sohn, der als Kind einer autoritären und demütigenden Lebensschule unterzogen wurde, wird später seinen alten Eltern die Ehre erweisen, sprich, sie angemessen versorgen. Die autoritäre Pädagogik des Jesus Sirach war im alten Orient allgemein verbreitet, auch wenn er sie besonders scharf formuliert: «Wer seinen Sohn liebt, hält den Stock für ihn bereit . . . Beug ihm den Kopf in Kindes tagen; schlag ihm aufs Gesäss so lange er klein ist, sonst wird er störrisch und widerspenstig gegen dich» (vgl. Sir 30,1–13).

Thomas Staubli hat Sir 3,1–16 und seine «theologisch-pädagogische Entfaltung des Gebotes der Elternehrung»1 analysiert. Er hebt hervor, dass für Sirach die Erfüllung der Schuldigkeit gegenüber den Eltern sündentilgende Wirkung hat – wie ein Sündopfer (Sir 3,3.14 vgl. Lev 4,27 ff .). Jesus Sirach setzt sich für die Rechte alter Menschen ein, die sich nicht mehr selbst versorgen können. Er fragt, wie sich Beziehungen über die Generationen hinweg gerecht gestalten lassen, richtet seinen Blick dabei konsequent auf die schwächere Seite und steht damit in der biblischen Tradition, die sich auf den Gott der Gerechtigkeit und der Parteilichkeit für die Armen ausrichtet. Ist es aber, um die Absicherung der Alten zu gewährleisten, nötig, die Kinder systematisch mit Gewalt zu demütigen und zu brechen? Braucht es für das solidarische Anliegen von Sir 3 die Gewalt von Sir 30? Muss hier nicht Sirach mit Sirach widersprochen werden? Die Auslegung von Sir 35 (SKZ 42/ 2007) hat gezeigt, dass im Zentrum seiner Botschaft der «Gott des Rechts» steht, der parteiisch ist für die Armen. Jesus Sirach formuliert radikal: «Man schlachtet den Sohn vor den Augen des Vaters, wenn man ein Opfer darbringt vom Gut der Armen» (Sir 34,24). Gott ist der Vater, der nicht will, dass seinen Kindern Gewalt angetan wird. Gilt diese politische Überzeugung nicht auch innerhalb der Familie? Wenn die Ehrung der Eltern sündenvergebend wirkt wie ein Opfer, kein Opfer aber «vom Gut der Armen» genommen werden soll, darf dann die Gerechtigkeit für die Alten auf der Gewalt an den Kindern basieren? Auch sie sind ja ein schwächerer Teil der Beziehung, die sich über drei Generationen erstreckt.

Die Verbindung dreier Generationen, die Jesus Sirach hier schaff t, führt mitten hinein in die biblische Theologie. Tovia Ben Chorin, von 1996 bis 2007 Rabbiner der Jüdischen Liberalen Gemeinde in Zürich, erkennt die generationenübergreifende Kontinuität in der häufig gebrauchten Formel vom «Gott unserer Väter, dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs» (Ex 3,6 u. A.). «Das soll dich lehren, dass das Gottesverständnis Abrahams, der das ‹Gehe aus deinem Vaterland› (Gen 12,1) hörte und ging, unterschieden ist von dem Isaaks, das . . . mit den Worten ‹der Gott Abrahams und der Schrecken Isaaks› (Gen 31,42) gekennzeichnet wird. Natürlich baut sich auch Jakob seine eigene Theologie auf, was mit der Gottesbezeichnung . . . ‹der Gott, der dir in Beth-El erschienen ist› (Gen 31,13) zum Ausdruck kommt. Und doch hatten alle drei Erzväter den einen Gott im Sinn. Nur ihre Perspektive war subjektiv. Sie rührte von ihren existentiellen Erfahrungen her.»2 Tovia Ben Chorin schreibt diese Sätze in Erinnerung an seinen Vater, Schalom Ben- Chorin. Ihre Beziehung war nicht immer einfach. Der Sohn beendet seine Erinnerungen mit den Worten: «Vater, wenn ich heute, etwas leichter, deine Schriften lese, höre ich deine Stimme und treffe mich mit dir, immer wieder. Vielleicht, wenn du da bist, fühlst du dann etwas von den Wellen der Hochachtung des Schülers gegenüber seinem Lehrer, von der Liebe des Sohnes zu seinem Vater. Es gibt Zeiten, in denen sich die Distanz verringert.»3 Die Distanz verringert sich, wenn Väter und ihre Kinder ihre unterschiedlichen existentiellen Erfahrungen wahrnehmen und würdigen können, selbst wenn sie so belastend darin verstrickt sind wie Abraham in den Schrecken Isaaks (Gen 22). Die Distanz verringert sich, wenn Väter und ihre Kinder sich die eigenen, unverwechselbaren Wege gehen lassen und dabei miteinander verbunden bleiben im Bewusstsein der gemeinsamen Wurzeln und der Ausrichtung auf das eine göttliche Geheimnis des Lebens. Die Distanz verringert sich, wenn die Beziehung beiden Seiten gerecht wird.

Mit der Kirche lesen

Im christlichen Kanon endet das Alte Testament mit dieser Verheissung: «Gott wird das Herz der Väter wieder den Söhnen zuwenden und das Herz der Söhne ihren Vätern» (Mal 3,24a). Das sind die letzten Worte des Alten Testaments. Von der Erfüllung dieser Verheissung hängt sehr viel ab. Die Gestaltung dieser Beziehung kann das Land vor dem Untergang bewahren (3,24b). Offensichtlich gab es schon damals eine Einsicht in die zerstörerische Kraft unerfüllter Vater-Sohn-Beziehungen. Heute wächst das Bewusstsein für die Folgen abwesender Väter und fehlender Väterlichkeit (nicht nur biologischer, auch sozialer) für Kinder und Jugendliche. Es braucht lebensnotwendend Zeiten und Räume, damit sich bestehende Distanzen verringern können. 1475 entstand die flämische Buchmalerei «Die Flucht nach Ägypten». Das Bild zeigt Maria, die auf einem Esel sitzt und liest. Und es zeigt Josef, der vorangeht und dabei das Kind in seinem Arm hält. «Maria liest und Josef trägt das Kind» ist Leitbild für das kirchliche Engagement am Schweizer Vätertag 2008. Der Vätertag am 15. Juni 2008 will die Aufmerksamkeit auf gelebte Väterlichkeit in ihren vielfältigen Formen lenken. Biologische und soziale Väter suchen nach Unterstützung und Anregungen für ihr Vatersein – auch nach spirituellen und religiösen Formen4 . Es gibt Zeiten, in denen sich die Distanz verringert – der Vätertag ist dafür ein Zeichen und eine Chance. Die Kirche kann an diesem Tag und darüber hinaus Räume öffnen, in denen Gott das Herz der Väter den Töchtern und Söhnen zuwendet und das Herz der Kinder ihren Vätern.

1 Thomas Staubli: Gott, unsere Gerechtigkeit. Begleiter zu den Sonntagslesungen aus dem Ersten Testament. Luzern 2000, 47.
2 Tovia Ben Chorin: Ein Lob auf Schalom Ben-Chorin, meinen Vater, sein Andenken sei mir und für viele zum Segen!, in: lamed. Zeitschrift Stiftung Zürcher Lehrhaus Nr. 3, November 2007, 7 f.
3 Ebd. 12.
4 Mehr dazu unter www.vaetertag.ch (im Ideenpool) und www.bibelwerk.ch.