Wir beraten

Sind wir offen für Heilszusagen?   

Winfried Bader zur Lesung an Weihnachten am Morgen SKZ 51-52/2007

Alttestamentliche Lesung: Jes 62,(10.)11–12
Evangelium: Lk 2,15–20

Es ist nicht schwer, Gericht und Unheil anzukündigen. Wir alle sind mit dem Unheil vertraut. Unsere Zeitungen und Tagesnachrichten sind voll mit Schreckensnachrichten. Der Fortschrittsglaube, so es ihn überhaupt wirklich gab, ist einem Pessimismus gewichen. An den Errungenschaften von Ernährungstechnik, Medizin, Verkehr, Wirtschaft und Technologie werden nur die Kehrseiten betont. Und selbst im privaten Bereich begrüsst man sich sehr oft mit der Frage: «Hast du es streng?» – und das Gesicht auf der Gegenseite ist äusserst erstaunt, wenn die Antwort kommt: «Mir geht es gut – und Morgen geht es mir vielleicht noch besser!» – das fällt aus dem Rahmen.

Kann bei dieser Ausgangslage ein Bibeltext wirklich Heil ankündigen? Wie kann man für uns Menschen unbegreifliches Heil begreifbar machen?

Mit Israel lesen

Starten wir die Lesung einen Vers eher:

«Zieht durch die Tore hinaus und bahnt dem Volk einen Weg!
Baut, ja baut eine Strasse und räumt die Steine beiseite!
Stellt ein Zeichen auf für die Völker!» (Jes 62,10)

Das gibt uns eine erste Spur, mit welchen anderen Texten unser Abschnitt zu deuten ist. Er ist eine Anspielung an die grosse Trostbotschaft des Deuterojesaja (Jes 40,1– 11):

«Tröstet, tröstet mein Volk, spricht euer Gott!» (Jes 40,1).

Die Wächter (vgl. Jes 62,6–7) werden in 62,10 aufgefordert durch die Tore hinauszuziehen aus der Stadt, um vor der Stadt all denen, die sich zu ihr, dem Ort der Gerechtigkeit und des Heils auf den Weg gemacht haben, die letzte Wegstrecke zu bereiten. Im Vorlagetexte ging es noch darum, einen Weg für Gott selbst zu bahnen:

«Bahnt für den Herrn einen Weg durch die Wüste!
Baut in der Steppe eine ebene Strasse für unseren Gott!» (Jes 40,3).

Deuterojesaja verband mit dem Wiederaufbau von Jerusalem die Hoffnung auf das Kommen des Herrn. Alles, was dem entgegen stand, sollte überwunden werden mit einer ebenen Strasse. Nun werden die gleichen Worte genommen, um nach dem Aufbau des Tempels, diesen auch für alle Welt zugänglich zu machen. Im älteren Text wurde angekündigt:

«Bahnt eine Strasse, ebnet den Weg,
entfernt die Hindernisse auf dem Weg meines Volkes!» (Jes 50,14).

Die ausziehenden Wächter (62,10) sollen für die heranströmenden Völker auch ein Zeichen aufstellen, so dass sie den Weg nach Jerusalem sicher finden. Damit weist der Text zurück zu einem Abschnitt, in dem sich Klage und Freude abwechseln. Die jüngste Geschichte des Untergangs der Stadt und des Exils liess niemanden mehr an eine positive Zukunft glauben. Das Kampfzeichen gegen Zion wird zu einem Banner für die Völker. Die Völker tragen die Diasporajuden heim:

«So spricht Gott, der Herr:
Sieh her, ich hebe die Hand in Richtung der Völker,
ich errichte für die Nationen ein Zeichen und sie bringen auf ihren Armen deine Söhne herbei
und tragen deine Töchter auf ihren Schultern» (Jes 49,22).

Das ist die Folie, auf der Jes 62,10 zu verstehen ist. Alle Andeutungen, alles was in den früheren Texten Schritt für Schritt zum Heil getan wurde, wird nun nochmals überboten, indem ein universales Heil in Blick kommt.

«Sagt der Tochter Zion: Sieh her, jetzt kommt deine Rettung» (62,11).

So sollen die Wächter verkündigen. Im älteren Text hiess der Verkündigungsauftrag an die Tochter Zion:

«Seht, da ist euer Gott. Seht, Gott der Herr, kommt mit Macht» (Jes 40,9).

Und:

«Der eine frohe Botschaft bringt und Rettung verheisst,
der zu Zion sagt: Dein Gott ist König» (Jes 52,7).

Gott kommt, ist das eine Versprechen. Die verheissene Rettung zeigt die Tatsache, dass Gott König ist. Die Wächter in Jes 62,11 nun verdichten beides in eine Aussage: «Deine Rettung kommt». Das Wichtige an Gottes Kommen ist die Rettung. Sie steht stellvertretend, fast wie ein Gottesnamen, für Gott selbst.

«Seht, er bringt seinen Siegespreis mit:
Alle, die er gewonnen hat, gehen vor ihm her» (Jes 40,10 = Jes 62,11b)

ist ein wörtliches Zitat. Dort ist es die Freudenbotin Zion, die es den Städten Judas verkündet. Der Siegespreis ist das Volk, das Gott aus dem Exil zurückbringt. In Jes 62 sind dagegen die Enden der Erde Adressat. Der Siegespreis für Zion ist dann nicht mehr nur das exilierte Volk, sondern gemäss 62,10 die Völker. Gott als die Rettung und Gott als der gute Hirt (vgl. Jes 40,11) gilt damit für die ganze Welt. All diese Weltvölker, die zum Zion ziehen, bekommen in 62,12 einen neuen Namen zugewiesen:

«Das heilige Volk» (62,12) nimmt den Bundesschluss auf, wo Gott am Sinai zu Israel sagt:
«Ihr gehört mir als ein Reich von Priestern und heiliges Volk» (Ex 19,6).

Der Sinaibund wird ausgeweitet. «Die Priester des Herrn» (Jes 61,6) sind alle Völker. «Die Erlösten des Herrn» (62,12) sind in Jes 51,10 das Volk, das beim Exodus durchs Meer zieht, in Jes 35,9 sind sie das Volk im messianischen Reich.

Das Verlassensein der Stadt, war ein Zwischenspiel:

«Nur für eine kleine Weile habe ich dich verlassen,
doch mit grossem Erbarmen hole ich dich heim» (Jes 54,7).

Die Umkehr Gottes, weg von der Rache zur Zusage des erlösenden Heils ist der grossartige Vorgang:

«Denn ein Tag der Rache lag mir im Sinn
und das Jahr der Erlösung war gekommen» (Jes 63,4).

Das drückt dieser neue Namen für Jerusalem aus:

«Die begehrte, die nicht mehr verlassene Stadt» (Jes 62,11).

Die Hinwendung Gottes zur ganzen Welt und zu allen Völkern ist der endgültige Zustand, ein Heil, das so unfassbar ist, dass es ohne die Anspielung und Verwendung bekannter Text nicht begriff en werden könnte.

Mit der Kirche lesen

Lukas verwendet bei seiner Weihnachtsgeschichte die gleiche Methode wie Tritojesaja:
Er verwendet bekannte ältere Bibeltexte aus dem Ersten Testament, um verstanden zu werden. Stellt man die Weihnachtsgeschichte des Lukas (Lk 2,1–20) in einer Synopse mit den verwendeten Zitaten und Anspielungen aus dem Ersten Testament zusammen, so bleibt am Ende kein Satz mehr übrig, der kreativ auf Lukas selbst zurückgeht. Durch die schriftgelehrte Aufnahme von älteren Texten will Lukas mit seiner Komposition in vielen Anspielungen uns andeuten, um wen es geht an Weihnachten. Für das unbegreifliche Ereignis der Weihnachtsnacht stellt er uns auf diese Weise begriffliche Kategorien bereit, in denen wir es fassen, d. h. in Begriff e setzen können. So wie die Umdeutung des Heils auf alle Völker bei Tritojesaja nicht ohne die Vorarbeit und die Bildwelt der anderen Texte, die längst verstanden waren, möglich gewesen wäre, so hätte Lukas sein Geschehen nicht begreifen können ohne die Denkleistungen und Denkmuster des Ersten Testament. Wie sonst, wenn nicht in diesen Denkmustern, hätte ein daher gelaufener Wanderprediger aus einem kleinen Nest in den abgelegenen Bergen von Galiläa als der erlösender König der Welt, als der Messias, der Herr, erkannt werden können