Wir beraten

Von der Macht eines neugeborenen Kindes   

Dieter Bauer zur Lesung am 4. Adventssonntag SKZ 50/2007

Alttestamentliche Lesung: Jes 7,10–14
Evangelium: Mt 1,18–21

«Wir werden ein Kind bekommen!» Die werdende Mutter strahlt. Der angehende Vater ist selbst ein bisschen stolz. Und Freunde und Bekannte freuen sich mit dem jungen Paar. Immer wieder ist dieser Satz Anlass zu grosser Freude gewesen, die eigentlich nur noch von dem Gefühl übertroffen wird, das Eltern haben, wenn sie ihr Neugeborenes erstmals in Händen halten. Lesung und Evangelium am 4. Adventssonntag handeln beide von einer solchen Geburtsankündigung. Und sie sind eng aufeinander bezogen.

Mit Israel lesen

Die erste Geschichte ist im Buch Jesaja überliefert. Liest man den Text in Jes 7 ab Vers 1, hat man sogar die Chance, die historischen Umstände dieser Geburtsankündigung besser zu verstehen:

König Ahas, der König von Jerusalem, hat Angst. Er zittert «wie die Bäume des Waldes im Wind zittern» (Jes 7,2). Zwei mächtige Könige, der König des Nordreichs Israel und der König der Aramäer marschieren mit ihren Heeren gegen Jerusalem. Sie wollen Ahas in eine gemeinsame Koalition gegen die Assyrer zwingen. Der aber will nicht. Er weiss, dass keine (militärische) Macht der Welt die Assyrer aufhalten kann. Die Lage scheint aussichtslos.

Der König tut das einzige, was er in einer solchen Situation der zu erwartenden Belagerung tun kann: Er inspiziert die Festigkeit der Stadtmauern und vor allem die Wasserversorgung. Dort hat er eine seltsame Begegnung: «Am Ende der Wasserleitung des oberen Teiches» trifft er auf den Propheten Jesaja, der seinen kleinen Sohn mit dabei hat. Jesaja hat ihm etwas auszurichten, ein Gotteswort: «Bewahre die Ruhe, fürchte dich nicht! Dein Herz soll nicht verzagen wegen dieser beiden Holzscheite, dieser rauchenden Stummel, (...) zwar planen [sie] Böses gegen dich, (...) doch so spricht Gott, der Herr: Das kommt nicht zustande, das wird nicht geschehen» (Jes 7,4–7).

Man muss sich das einmal vorstellen: Auf der einen Seite der König, voll Sorge und Angst um seine Stadt – und auf der anderen Seite der Prophet, der die Situation herunterspielt und den König auffordert, die Ruhe zu bewahren. «Viel Rauch um nichts» würden wir angesichts der beiden Könige vor den Mauern heute sagen. Hat der König die Lage falsch eingeschätzt?

Aber andererseits: Woher sollte es Jesaja besser wissen? Ist er der Fachmann für Strategie und Verteidigung? Ist er ein Heerführer mit reicher militärischer Erfahrung? Oder ist das nicht doch eher der König? Der Prophet jedenfalls bleibt dabei, es ist ihm ernst: «Glaubt ihr nicht, so bleibt ihr nicht» (Jes 7,9). Warum aber sollte der König Jesaja glauben?

Er verlässt sich lieber auf seine eigenen Sicherheitsmassnahmen. Da bietet ihm Jesaja ein «Zeichen» an, eine Hilfe, damit der König eher glauben kann: «Erbitte dir vom Herrn, deinem Gott, ein Zeichen» (Jes 7,11). Das wäre es doch: ein Strohhalm, an den sich der König klammern kann, ein Fingerzeig, dass alles doch noch gut geht! Doch der König lehnt dankend ab. Seltsam: er will sich erst gar nicht darauf einlassen. Er will nicht, so einfach ist das. Offensichtlich hat er seine Entscheidung längst getroffen.

Da geschieht etwas Sonderbares; er erhält trotzdem ein Zeichen: «Seht, die junge Frau wird ein Kind empfangen, sie wird einen Sohn gebären, und sie wird ihm den Namen Immanuel (Gott mit uns) geben» (Jes 7,14). Wir wissen heute nicht mehr, auf welches Kind sich der Prophet Jesaja damals konkret bezogen hat: Wahrscheinlich ging es um den Thronfolger, den die «junge Frau» des Königs demnächst zur Welt bringen sollte. Aber was hilft das dem König Ahas in seiner verzweifelten Situation wirklich weiter? Was hat die Geburt seines Kindes mit der aussichtslosen politischen Lage seines Landes zu tun?

Vielleicht muss man sich das Bild eines neugeborenen Kindes einfach einmal vergegenwärtigen, um dahinterzukommen, was das bedeutet: Neubeginn, Hoffnung, Zukunft, alles offen, Entwicklungsmöglichkeiten … Aber auch: Zerbrechlichkeit, Hilflosigkeit, absolute Abhängigkeit, …

Wer jemals ein Neugeborenes in Händen gehalten hat, weiss, dass ein solches Kind die ganze Welt verändern kann, alles in einem neuen Licht sehen lässt. Es relativiert so viel, nimmt total gefangen und setzt neue Massstäbe. Nichts mehr ist, wie es vorher war. Wer jemals ein Neugeborenes im Arm gehalten hat, glaubt an eine Zukunft, glaubt an neue Möglichkeiten, die er vorher gar nicht wahrgenommen hat.

«Wahrnehmen», das wäre es doch! Allerdings: Da geht es natürlich um eine andere Wahrheit, als diejenige, die der König Ahas vertritt. Diese Wahrheit, dass ein Neugeborenes seine Zukunft sein könnte, nimmt er nicht wahr. Er weigert sich geradezu, sie wahrzunehmen. Er verlässt sich auf Feststehendes wie seine Mauern, nicht auf die Zerbrechlichkeit neuen Lebens. Und verspielt damit die Chance des Glaubens.

Mit der Kirche lesen

In der Erzählung von der Geburtsankündigung Jesu im Matthäusevangelium ist das Kind ebenfalls ein grosses Hoffnungszeichen: Wie der Immanuel («Gott mit uns»; Jes 7,14) bei Jesaja, so ist auch Jesus («Gott wird retten»; Mt 1,21) zu Grossem bestimmt. Und interessanterweise ist es wieder ein König von Jerusalem, der auf das Neugeborene aufmerksam gemacht wird: Herodes der Grosse. Und: Geht er hin, um zu schauen? Nein, im Gegenteil: Er versucht es töten zu lassen. Das Kind macht ihm Angst. Anders als die Sterndeuter aus dem Osten, die den Stern des Kindes aufgehen sahen und sich auf den Weg gemacht haben, bleibt er auf seinem hohen Thron sitzen und schickt Soldaten.

Und doch: Dieses Kind und diejenigen, die auf dieses schauen, werden innerhalb kürzester Zeit die gesamte Welt des römischen Reiches und darüber hinaus verändern, nicht mit der Gewalt der Waffen, sondern mit der Ohnmacht des Kindes. Diese Botschaft ist heute so aktuell wie eh und je: Verlassen wir uns lieber auf die eigene Macht und Stärke wie Ahas, Herodes oder Augustus? Oder lassen wir uns neu anrühren von der Ohnmacht und Zukunftsfähigkeit der Kinder? Daran nämlich, wie wir in unserer Gesellschaft mit den Kindern umgehen, wird sich zeigen, ob wir eine Zukunft haben.

Das Alte Testament und Weihnachten

Es ist kein Geheimnis, dass das christliche Weihnachtsbrauchtum sich nicht in seinem ganzen Umfang den Überlieferungen der Bibel verdankt. In der neuesten Ausgabe von «Welt und Umwelt der Bibel» werden die sehr unterschiedlichen Berichte des Matthäus- und Lukasevangeliums daraufhin angeschaut, wie historische Auskünfte in die theologische Aussageabsicht der Evangelien eingeflochten wurden. Dabei führen immer wieder Spuren ins Alte Testament. Die meisten Symbole der Weihnachtszeit, nicht nur die Immanuelweissagung des Jesaja, entstammen überraschenderweise diesem Teil der Bibel.

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