Wir beraten

Die Furcht ist ein Sich-Zusammenziehen. Die Liebe ist ein Sich-Ausweiten.   

Peter Zürn zur Lesung am 3. Adventssonntag SKZ 49/2007

Alttestamentliche Lesung: Jes 35,1–6a.10
Evangelium: Mt 11,2–11

Die Auslegung von Jes 11 vom letzten Sonntag malte das Bild des von Gott begeisterten, beseelten Zukunftsmenschen. Ich möchte mit der Auslegung des heutigen Lesungstextes an diesem Bild weiterzeichnen.

Mit Israel lesen

Die Leseordnung bricht aus dem kunstvoll geformten Gedicht Jes 35,1–10 Bruchstücke heraus. Aber selbst im Fragment wird die Schönheit und Kraft des Textes wirksam. Ich nehme den ganzen Text in den Blick. Er spielt in der Wüste. Sie ist Ort der Gottesbegegnung, der Ort, an dem die Schönheit und die rettende Kraft Gottes erfahrbar wird. Der Text spricht von einer Wanderung durch die Wüste (35,8–9). Er vergegenwärtigt damit die Wüstenwanderung des Volkes Israel nach der Befreiung aus Ägypten, die zum Prototyp der göttlichen Hilfe geworden ist. Jes 35 geht gleichsam zum Anfang zurück, zum Anfang der Geschichte des Volkes mit Gott. Wie schon einmal wird das Volk wieder aus der Ferne und Fremde gesammelt und von Gott ins verheissene Land geführt. Und wieder führt der Weg dabei durch die Wüste. Doch jetzt ist vieles ganz anders. Die Entbehrungen, die die erste Wüstenwanderung geprägt haben, fehlen. Die Wüste ist nicht der Ort des Mangels, sondern des Überflusses, Quellen brechen hervor, Bäche fliessen (35,6b). Die Wanderung ist kein jahrzehntelanger Irrweg, sondern ein sicherer, klar erkennbarer Heiliger Weg (35,8). Die Wüste verwandelt sich, sie zeigt bereits die Schönheit des verheissenen Landes, des Libanon, des Karmel und der Ebene Scharon (35,2). Die Nachgeborenen, die die Anfangsgeschichten vergegenwärtigen, sind erfahrener als ihre Vorfahren, um gute und schlechte Erfahrungen reicher. Beim neuen Anfang nehmen sie diese Erfahrungen mit. Vielleicht müssen sie so manche Fehler nicht wiederholen, manche Umwege nicht gehen. Sie nehmen auch ihre Bilder vom verheissenen Land mit und können so unterwegs Spuren davon und Hinweise darauf entdecken.

Es bleibt off en, wann sich dieses Geschehen abspielt. Jüdische Auslegungen, z. B. von Ibn Esra, denken an Ereignisse nach dem Tod des Assyrerkönigs Sanherib, der 701 Juda verwüstet und viele Bewohnerinnen und Bewohner entführt hatte. Wahrscheinlicher ist ein Zusammenhang mit dem babylonischen Exil. Vielleicht verheisst der Text aber auch eine Rückkehr in eschatologischer Zeit. Jes 35 überbrückt die Zeiten, er verbindet die Texte Jesajas mit denen seiner Schülerinnen und Schüler und stammt in dieser Form wohl erst aus dem 5. Jahrhundert. Der Text bleibt zukunftsoff en: Neue Anfänge sind jederzeit möglich und notwendig, die Hilfe Gottes ereignet sich zu allen Zeiten, Gottes Treue zum Bund bleibt ewig. «Auf nichts war Verlass / nur auf Wunder» heisst es im Gedicht «Die frühen Jahre» von Mascha Kaléko, das vom Leben in der Fremde im frühen 20. Jahrhundert spricht.

In der Wüste, die von Wasser überfliesst und erblüht – wie es im Frühjahr in Israel geschieht –, wird Gottes Gegenwart und Wirken erfahrbar. Das nennt die Bibel Wunder. Die Verwandlung der Wüste korrespondiert mit der Verwandlung von Menschen, die sich körperlich-sinnlich zeigt, an Händen, Knien, Augen, Ohren und Zungen (35,3.5 f.). Mensch und Natur wirken aufeinander ein (vgl. Jes 11). Die Menschen verwandeln sich von Verzagten (35,4) in Erlöste und Befreite (35,9 f.). Die Ausdrücke stehen für unterschiedliche Haltungen der Gegenwart und der Zukunft gegenüber. Buber und Rosenzweig übersetzen «die Verzagten» (hebr. nimharé lew) mit «die Herzverscheuchten». Rabbi Hocha’ja Rabba sieht in ihnen «Defaitisten, die das Leiden des Exils nicht mehr zu ertragen vermögen». Das Verhalten, das daraus resultiert, besteht nicht in Passivität, sondern im Gegenteil in zu raschem Denken und Handeln. R. Elieser von Beaugency: «Sie sehen eine Sache nur am Anfang und denken nicht darüber nach», d. h. sie sind die Voreiligen, die zu rasch Schlüsse ziehen und die «ohne eingehende Betrachtung handeln». Für Raschi sind es Menschen, die «die Erlösung beschleunigen [wollen] und sich sorgen, weil sie auf sich warten lässt» und die – so R. Jehoschua ben Levi – «das eschatologische Ende zu erzwingen suchen».1 In den Herzverscheuchten dominiert die Furcht, die durch die Flucht nach vorn überwunden werden soll. Sie verlieren die Fähigkeit, die Zeit des Wartens zu nutzen: zu eingehender Betrachtung der Wirklichkeit, zu genauem, differenzierten Nachdenken über Handlungsoptionen und ihre Folgen. Gegenwart und Zukunft ziehen sich auf eine einzige Option zusammen, von der alles abhängt und für die man bereit ist, alles einzusetzen und zu opfern. Diese Herzen gleichen der lebensfeindlichen und kargen Wüste. Doch aus ihnen werden Zukunftsmenschen: Befreite und Erlöste, genauer Ausgelöste und Abgegoltene (hebr. ge’ulim bzw. pedujim). Die Ausdrücke stammen aus dem juristischen Bereich. Der Go’el ist der blutsverwandte Löser, der einen in Schuldsklaverei geratenen Angehörigen loskauft oder ein Haus oder Acker eines Verwandten mit Geld zurückerwirbt (Lev 25,47–54; vgl. das Buch Rut). Das Verb padah wird für den Loskauf der Gott gehörenden Erstgeburt von Mensch und Vieh verwendet (Ex 13,11–13; Num 18,15 f.). Die Zukunftsmenschen sind also von Ansprüchen anderer an sie befreit – auch von überhöhten Ansprüchen an sich selbst. Diese befreiende Erfahrung spricht ihnen Würde zu, macht sie schön, öffnet ihre Sinne für Wunder, weitet das Herz für Jubel. Sie schafft Zeit und Raum für die Erfahrung geliebt zu werden und zu lieben. «Die Furcht ist ein sich Zusammenziehen. Die Liebe ist ein sich Ausweiten (Rabbi von Mesritsch).»2 Menschen, die sich dem Leben mit Augen der Liebe zuwenden, sind es, die den Heiligen Weg durch die Wüste gehen. Auf diesem Weg kommen auch die «Unerfahrenen» ans Ziel (35,8). Er setzt keine «fertigen» Menschen voraus, schon gar keine Übermenschen. Menschen können dort an Erfahrung gewinnen, dazu gehört auch, dass sie Fehler machen und daraus lernen. Sie können reifer werden, wachsen, immer erwachsener werden. Menschen der Zukunft können «in Heiterkeit Fragment sein» (Fulbert Steffensky).

Mit der Kirche lesen

Johannes der Täufer geht wie Jes 35 zum Anfang zurück, in die Wüste. Er führt das Volk zu den Anfängen zurück und macht einen Neuanfang möglich. Er verkörpert geradezu die Heiterkeit, Fragment zu sein, vorläufig, vorbereitend, Bote von Grösserem. Vermutlich ist er nicht frei von einem verscheuchten Herzen. Er tut sich schwer mit dem Warten und will das eschatologische Ende erzwingen. Vielleicht ist deswegen der Kleinste im Himmelreich grösser als er. Das Himmelreich ist das verheissene Land, das Ziel des Weges, dessen Schönheit und Pracht schon jetzt, in der Wüste, sichtbar wird, sichtbar in der Natur und an Menschen. Johannes ist noch unerfahren mit solchen Wundern. Aber er fragt nach und will dazulernen. Der Auftrag Jesu an seine Jüngerinnen und Jünger ergeht auch an uns und führt ins Weite: Geht und berichtet, was ihr hört und seht.

1 Alle Zitate nach Roland Gradwohl: Bibelauslegungen aus jüdischen Quellen, Band 2. Stuttgart 2 1995, 179.
2 Zitiert nach Viktor Malka: Sterne der Weisheit. Perlen jüdischer Mystik. Freiburg i. Br. 2007, 174.