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Allerbarmen – oder: Die Überwindung des Bösen   

André Flury-Schölch zur Lesung am 31. Sonntag im Jahreskreis SKZ 43/2007

Alttestamentliche Lesung: Weish 11,22–12,2
Evangelium: Lk 19,1–10

Die Lesung aus dem Buch der Weisheit1 ist ein deutliches Beispiel dafür, dass das Klischee eines Gegensatzes zwischen einem zornig strafenden Gott des ATs und einem erbarmend liebenden Gott des NTs nicht zutrifft:

Gottes zuvorkommende Gnade und Allerbarmen werden in Weish 11,22–12,2 ebenso tief beschrieben, wie es die Lebenspraxis Jesu – im heutigen Evangelium in der Begegnung mit Zachäus – zum Ausdruck bringt. Allversöhnung/Allerbarmen mögen für uns vielleicht harmlos klingen. Wenn man sie jedoch auf konkrete Situationen im eigenen Leben oder gar auf Extremfälle bezieht, werden sie höchst anspruchs- und spannungsvoll: Welche Provokationen Weish 11,22–12,2 und Lk 19,1–10 zu ihren Zeiten dargestellt haben mögen, kann man sich in etwa vorstellen, wenn man sich das Wirken von Karl Barth vor Augen hält, der während und trotz seines Widerstandes gegen das NS-Regime eine Allversöhnung bei Gott vertreten hat oder wenn man an die Irritationen denkt, die bestimmte christliche Gruppierungen in den USA durch ihre Aussage: «Jesus loves Osama bin Laden», ausgelöst haben.

Mit Israel lesen

Der Kontext 11,2 ff . zeigt, dass Weish 11,22– 12,2 von der Frage getrieben wird, warum Gott das Unrechtssystem der Ägypter des Exodusgeschehens so lange hat gewähren lassen. Da «die Ägypter» im AT zum Inbegriff für Ungerechtigkeit und Unterdrückung geworden sind, lautet die Frage allgemein gestellt: Warum tritt Gott den Ungerechtigkeiten und Gewalttätigkeiten, die Menschen andern Menschen antun, nicht viel schneller und wirkmächtiger entgegen? Nach 11,17–21 hätte Gott aufgrund seiner Allmacht den Gräueltaten der Ägypter im Nu ein Ende bereiten können. In 11,22–12,2 wird dem jedoch das Erbarmen und die Liebe Gottes, die sich auch an den Ägyptern erweisen wollen, entgegengehalten.

Für eine Predigt lässt sich ein den Versen Entlanggehen vorstellen, wozu folgende Gedanken kurze Anregungen geben mögen: 11,22: «Die ganze Welt ist ja vor dir wie ein Stäubchen auf der Waage…» Hier klingt noch an, was 11,17–21 ausformulierte: Für Gott wäre es möglich, der Ungerechtigkeit dieser Erde ein Ende zu bereiten. 11,23: «Du hast mit allen Erbarmen, weil du alles vermagst, und siehst über die Sünden der Menschen hinweg, damit sie sich bekehren.» Was menschlich gesehen als unmöglich erscheint, vermag Gott: Erbarmen mit «den Ägyptern» zu haben. Hinter der so anonymen Unheilsmacht Ägypten treten hier offenbar Menschen ins Blickfeld, deren sich Gott erbarmen will und kann. Und gerade dieses Erbarmen, gerade das Hinwegsehen über deren Sünden bewirkt – so die Überzeugung von Weish – dass sich die Übeltäter bekehren, dass sie zu Gott umkehren (vgl. 12,2). 11,24: «Du liebst alles, was ist, und verabscheust nichts von allem, was du gemacht hast; denn hättest du etwas gehasst, so hättest du es nicht geschaffen.» Im Glauben an den einen guten Schöpfergott, der alles gut geschaff en hat (Gen 1), kommt wohl das tiefste Vertrauensbekenntnis Israels zum Ausdruck. 11,25: «Wie könnte etwas ohne deinen Willen Bestand haben …?» Die Überzeugung der «creatio continua» ruft in Weish eine fast heitere Zuversicht und Gelassenheit hervor: nur das Gute wird bestehen bleiben. 11,26: «Du schonst alles, weil es dein Eigentum ist, Herr, du Freund des Lebens.» Nicht nur ein exklusiv erwähltes Volk (eine Religionsgemeinschaft usw.), sondern alles ist Gottes Eigentum. Folge dessen liebt Gott alles (11,24) und schont Gott alles. 12,1: «Denn in allem ist dein unvergänglicher Geist.» Ohne Geist Gottes im Menschen (bzw. allen Lebewesen) kein Leben (Gen 6,3.13). Daher auch umgekehrt: Lebt ein Mensch, so ist Geist Gottes in ihm. 12,2: «Darum bestrafst du die Sünder nur nach und nach; du mahnst sie und erinnerst sie an ihre Sünden, damit sie sich von der Schlechtigkeit abwenden und an dich glauben, Herr.» Die Betonung liegt auf dem «nach und nach» (wörtl. «du bestrafst … nur wenig»). In Weish – wie auch sonst im Alten Orient verbreitet – sieht man das gerechte Strafmass im Tun-Ergehens-Zusammenhang geregelt: das schlechte wie das gute Tun wirken auf den Täter zurück (vgl. Weish 11,15 f.). Die Ermahnung und das Erinnern zielen auch in 12,2 darauf, dass sich die Menschen weg vom Lebenszerstörenden und hin zum Gott des Lebens wenden. Nicht ein gewaltig-mächtiges Strafhandeln Gottes (11,17–21), sondern Gottes Allerbarmen wird dies vollbringen.

Mit der Kirche lesen

Im NT ist «der Zöllner» der Inbegriff eines Sünders, der die andern übervorteilt, betrügt und erpresst, der mit der römischen Besatzungsmacht kollaboriert und so ein Profi teur des Krieges ist. Das Erstaunlichste an der allseits bekannten Erzählung ist: Es wird nicht berichtet, dass Jesus dem Zachäus irgendwelche Sünden vorgehalten oder ihn zur Umkehr aufgefordert hätte. Zwar könnte man sich dies hinzudenken – doch die Erzählung sagt es gerade nicht. Betont wird vielmehr, (a) dass Jesus zu Zachäus hinaufschaut – das heisst: er nimmt ihn wahr, da wo er ist; (b) dass Jesus Zachäus mit Namen kennt und anspricht – das heisst: er achtet ihn in seiner Personenwürde; (c) dass Jesus bei Zachäus heute zu Gast sein muss – das heisst: ohne Vorbedingungen, nicht erst, wenn Zachäus sich geändert hat. Allein dieses Wahrgenommenwerden und Angesprochensein durch Jesus bewirkt, dass Zachäus schnell heruntersteigt und Jesus freudig (wörtl. «voller Freude») aufnimmt. «Die Leute» (wörtl. «alle, die es sahen») reagieren mit Empörung (V7) – doch Jesus wendet sich einem Mensch zu, der sonst gemieden und gehasst wird, der als Schurke und Erpresser gilt. Es ist eine Zuwendung ohne Bedingung, ohne Vorbehalte – und deshalb mit einer tiefgreifenden, grossen Wirkung: die heilschaffende Umkehr des Zachäus (V8).

Weish 11,22–12,2 und Lk 19,1-10 sind Zeugnisse jener biblischen Glaubenstradition, die daran festhält, dass Ungerechtigkeit nur durch Gerechtigkeit, Böses durch Gutes und Hass durch Liebe überwunden werden können (vgl. Spr 25,21 f.; Röm 12,20 f.). Dieses Zutrauen in die praktische Feindesliebe gründet im Vertrauen auf das wirkmächtige Allerbarmen Gottes (Mt 5,43–48; Lk 6,27–36).


1 Das griechisch geschriebene Buch der Weisheit ist wohl die jüngste jüdische Schrift (1. Jhdt. v. Chr.), die in den griechischen Kanon aufgenommen wurde. Entstanden ist die Schrift wahrscheinlich im ägyptischen Alexandria. Aufgrund zahlreicher Ähnlichkeiten zur Theologie der von Philo v. Alexandria (25 v. Chr. bis ca. 40 n. Chr.) beschriebenen jüdischen Frauen, die in kontemplativer Gemeinschaft lebten (vgl. De vita contemplativa), wird auch für das Buch der Weisheit ein Verfasserinnen- Kreis erwogen.
2 Zum Klischee gilt zudem zu bedenken: Auch im NT werden zornig-strafende Gottesbilder vertreten (Mk 9,42 par; Mt 3,7; 10,34–36 par; 24,51; 25,42; Lk 3,7; Joh 3,36; Röm 1,18; 2,5; 2Thess 1,5– 10; Hebr 10,26–31; Off 20,15), und das AT macht viele weitere grundlegende Aussagen, welche die Priorität der Liebe und des Erbarmens Gottes betonen: Indem beispielsweise das Erbarmen und die Gnade Gottes als das immer Grössere und das Ewige dargestellt werden (z. B. Ex 20,5–6; 34,7; Dtn 5,9–10: Gnade für Tausende / Strafe für drei Generationen; Ps 100,5; 106,1) oder indem das Bild der mütterlich-elterlichen Liebe Gottes zu seinem Volk in Hos 11,1–9 zu der Überzeugung führt: JHWH kommt nicht im Zorn, denn JHWH ist Gott und kein Mann (11,9).