Wir beraten

Die Unschuld verlassen – Stärke beanspruchen   

Peter Zürn zur Lesung am 29. Sonntag im Jahreskreis SKZ 40-41/2007

Alttestamentliche Lesung: Ex 17,8–13
Evangelium: Lk 18,1–8

Was wir nicht wahrhaben wollen und verdrängen, kommt wieder. Es lässt uns nicht in Ruhe und am Ende müssen wir fürchten, dass es uns ins Gesicht schlägt. Was der Richter mit der Witwe im Evangelium erlebt, ist auch Gleichnis für unseren Umgang mit den Schattenseiten der Vergangenheit. Im November 2008 jährt sich zum 70. Mal die Reichspogromnacht in Deutschland und die Einführung des J-Stempels in der Schweiz. Jüdische Menschen sprechen von der Erfahrung, dass nicht nur damals, sondern in jeder Generation ein Feind aufsteht, um sie zu verderben. Sie nennen diesen Feind Amalek. Die jüdische Auslegungstradition regt uns an – mit Blick auf den 9. November 2008 – die heilsame Kraft der Erinnerung lebendig werden zu lassen.

Mit Israel lesen

Im Lesungstext geht es um den Kampf zwischen Israel und Amalek. Die Rabbinerin Elisa Klapheck hat Amalek ein ganzes Kapitel ihres Buches gewidmet. Für sie als deutsche Jüdin mit Jahrgang 1962 bedeutet die Beschäftigung mit Amalek «einen Versuch, die Schoa theologisch einzuordnen».1 Wer ist Amalek? Im Lesungstext – vermutlich aus einer alten Traditionsschicht – wird das Volk Israel während der Wanderung durch die Wüste vom Stamm Amalek angegriffen. Historisch steht dahinter wohl die Konkurrenz zweier Stämme um die Kontrolle über die Handelswege im Negev.2 In späteren biblischen Texten nehmen die Vorwürfe gegenüber Amalek zu. Das Deuteronomium klagt Amalek an, beim Angriff während der Wüstenwanderung gezielt die Schwachen erschlagen zu haben (Dtn 25,17–19). Immer mehr wird Amalek zur Chiffre, zum Feind des Volkes Israels schlechthin. Die unzähligen Erfahrungen als Opfer von Gewalt, von Unterdrückung, Verfolgung, Ermordung durch die Geschichte hindurch, verdichten sich in dieser Chiffre. Beim Sederabend an Pessach wird gesungen: «... nicht etwa nur Einer erhob sich, um uns zu verderben, sondern in jedem Zeitalter stand man wider uns auf, um uns zu vernichten». So ist Agag, der in der Zeit Sauls Krieg gegen Israel führt, ein Amalekiter (1Sam 15) und auch Haman, der im Buch Ester alle Juden Persiens vernichten will, ist eine Verkörperung Amaleks. Elisa Klapheck führt das weiter: «Hitler ist Amalek. Die Schoa und der Zweite Weltkrieg sind das Werk Amaleks. Amalek – das ist das radikal Böse» (112 f.)

In der Leseordnung der Synagoge werden die Verse aus Dtn 25, die an Amalek erinnern und die Erzählung von Ex 17,8–16 aufnehmen, am Sabbat vor dem Purimfest gelesen. Er trägt den Namen Schabbat Sachor, «Gedenke». Leider beendet unsere Leseordnung den Abschnitt aus Ex 17 mit Vers 13 und lässt den Auftrag zur Erinnerung, zum Gedenken weg, der in der jüdischen Tradition der wirkmächtige Teil des Textes ist: «Halte das zur Erinnerung in einer Urkunde fest (. . .). Denn ich will die Erinnerung an Amalek unter dem Himmel austilgen». Es ist ein paradoxer Auftrag: «Erinnere dich, um die Erinnerung auszulöschen» (112). Was heisst das? Rabbinerin Klapheck erinnert an die Anfänge von Israel und Amalek, an ein altes, verdrängtes Familiendrama. Amalek ist ein Enkel Esaus (Gen 36,12), ein Verwandter Israels. In ihm setzt sich die Geschichte vom verdrängten älteren Zwillingsbruder fort, vom verlorenen Erbe, von der Schmach ausgeschlossen zu sein. Die Geschichte Amaleks erzählt, dass das Verdrängte immer wiederkehrt: «In jeder Generation steht Amalek von neuem auf.» Dies darf auf keinen Fall so missverstanden werden, als ob das Judentum selbst schuld an der Gewalt wäre, unter der es leiden musste. Das wäre eine Entschuldigung der wahren Täter und stünde in einer furchtbaren Tradition des Antijudaismus, in der immer wieder die Opfer zu den eigentlich Schuldigen gemacht wurden. Und trotzdem geht es um Schuld und Schuldfähigkeit. Die Rabbinerin gewinnt aus der Erinnerung an Amalek ein neues Selbstbewusstsein als deutsche Jüdin ihrer Generation. Es besteht darin, sich nicht mehr ausschliesslich als Opfer zu begreifen, sondern aus der jüdischen Tradition heraus aktiv auf Gesellschaft und Politik einzuwirken, «konkret und dabei heiligend auf eine niemals reine und heile Gegenwart» (120). Das ist der Weg Amalek zu besiegen und er wird in Ex 17 begangen. Entscheidend für den Ausgang des Kampfes ist Moses. «Solange Mose seine Hand erhoben hielt, war Israel stärker; sooft er aber die Hand sinken liess, war Amalek stärker» (Ex 17,11). «Können den Moses’ Hände den Kampf fördern oder den Kampf hemmen?» fragt die Mischna und gibt folgende Antwort: «Das will vielmehr sagen, dass die Israeliten, solange sie nach oben blickten und ihr Herz dem himmlischen Vater zu eigen gaben, die Oberhand hatten, sonst aber unterlagen» (Rosch Haschana 3:8). Amalek ist nur in der Ausrichtung auf Gott zu besiegen, «mit Gottesfurcht» wie es Rabbinerin Klapheck ausdrückt. «Aber diese Gottesfurcht ist kein lammfrohes Sich-Ergeben in das eigene Schicksal. Amalek zu bezwingen verlangt, ‹schuldfähig› zu werden – den Bereich der Unschuld zu verlassen und ein Recht auf Stärke zu beanspruchen» (119). Ein Vorbild dafür sieht die Rabbinerin in Ester, die sich vom liebreizenden Haremsmädchen zur politisch handelnden Königin emanzipiert – nicht umsonst wird das Buch Ester an Purim in der Synagoge gelesen, eine Woche nach dem Schabbat Sachor.

Mit der Kirche lesen

Das Christentum war oftmals Amalek. Wir tragen Verantwortung für die Erinnerung daran. Am 9. November 2008 findet an der schweizerisch-deutschen Grenze ein besonderes Projekt statt, das unter anderem von der Röm.-kath. Landeskirche Aargau unterstützt wird. Unter dem Titel «Grenz-Erfahrungen» wird in verschiedenen Veranstaltungen den Ereignissen an dieser Grenze im Jahr 1938 gedacht. Im Zentrum steht die Erinnerung an Menschen, die die Zeit erlebt haben, als Opfer, Täter, Helfer und Zuschauerinnen. Es wird Raum sein für die Trauer um die jüdischen Toten und ihre nie geborenen Kinder und Enkel, die heute mit uns leben würden und für die Gefühle von Schuld und Scham. Aus der Erinnerung heraus werden Wege in die Zukunft eröffnet. Sie können in Form von Ritualen anfanghaft und doch wirklich begangen werden. Sie gründen in dem Bewusstsein, dass wir nicht nur Nachkommen Amaleks sind, nicht nur Erbinnen und Erben einer gewaltvollen Geschichte. Sie sind getragen vom Glauben an persönliche und soziale Heilung von Verletzungen, Scham und Sprachlosigkeit. Sie stärken unsere Erfahrungen damit, dass wir nicht an der Geschichte vorbei – aber auf neue Weise mit ihr – frei und verantwortlich leben können. Das Projekt soll eine Erinnerungskultur fördern, die in die Zukunft wirkt – für den lebendigen und heilsamen Umgang mit Verschiedenheit und Grenzen in der Schweiz. Sie werden von diesem Projekt noch mehr hören. Es steht unter der Verheissung von Gottes Schalom, wie ihn die Rabbinerin versteht: «Dabei bedeutet ‹Schalom› nicht einen alle Menschen verschmelzenden ‹Frieden›, sondern eine ‹Fülle›, in der die unterschiedlichen Heilsgeschichten der Menschen ... zu einer vollen Geltung kommen» (121).

1 Elisa Klapheck: So bin ich Rabbinerin geworden. Jüdische Herausforderungen hier und jetzt. Freiburg im Breisgau 2005, 112. Alle folgenden Seitenangaben im Text beziehen sich darauf.
2 Thomas Staubli: Gott unsere Gerechtigkeit. Begleiter zu den Sonntagslesungen aus dem Ersten Testament. Luzern 2000, 201.