Wir beraten

Ein Gott der Unterdrückten und Hilflosen   

André Flury-Schölch zur Lesung am 25. Sonntag im Jahreskreis SKZ 37/2007

Alttestamentliche Lesung: Am 8,4–7
Evangelium: Lk 16,1–13

Zeichen unserer Zeit: Jugendliche, die keine Lehrstelle finden. Menschen, die an ihrer Arbeitslosigkeit oder an der Härte und Rücksichtslosigkeit am Arbeitsplatz physisch und psychisch Schaden nehmen. Eine sich neu ausbreitende Armut. Und auf der anderen Seite: Riesensaläre und Millionengewinne für ein paar wenige. – Zeichen, die an die Zeit des Propheten Amos wie an jene des Jesus von Nazareth erinnern.

Mit Israel lesen

Amos trat im 8. Jh. v.Chr. als Prophet auf. Zu dieser Zeit herrschte in Juda und besonders im Nordreich Israel Hochkonjunktur.1 Trotz oder wegen des wirtschaftlichen Aufschwungs kam es zu einer enormen Kluft zwischen einer kleinen Oberschicht und der grossen Mehrheit der Bevölkerung. Profiteure des Aufschwungs waren die Könige, welche Kriegspolitik zur eigenen Machtsteigerung betrieben, die vom König abhängigen Militärs, Beamten, Hofpropheten und -priester sowie Kaufleute und Grossgrundbesitzer. Diese Mächtigen entwickelten u. a. ein Kreditsystem, das die kleinen Leute in die Armut und Abhängigkeit trieb: Unzähligen Kleinbauern wurden der Acker, das Vieh und das Haus zuerst gepfändet, dann enteignet. Doch damit nicht genug: Das antike Kreditrecht erlaubte nicht nur den Zugriff des Kreditgebers auf den gesamten Besitz des Schuldners, sondern auch auf dessen Familie und seine Person (Personenhaftung, vgl. 2 Kön 4,1; Neh 5,1–5), und so wurden Menschen in die Schuldsklaverei getrieben. Sie werden von den biblischen Schriften jener Zeit als Arme (hebr. ebjon), Elende / Unterdrückte (ani) und Schwache / Hilfslose (dal) bezeichnet.

In dieser sozialgeschichtlichen Misere wird Amos, ein Schafzüchter und Maulbeerfeigenpflanzer (1,1; 7,14) aus Tekoa (südl. von Bethlehem), von JHWH berufen, um zur Zeit des Jerobeam II (786–746 v. Chr.) ins mächtige Nordreich Israel zu gehen und in schärfster Weise den verdorbenen religiösen Kult (4,4 f.; 5,21–24) und die sozialen Ungerechtigkeiten zu geisseln. Ein Beispiel prophetischer Sozialkritik bietet die heutige Lesung: Am 8,4–7 spricht die Bedrücker von Armen und die Vernichter von Elenden an (V4). Vier konkrete Anklagen werden gegen sie erhoben: (1) Sie sehen in der sozialen Errungenschaft der Arbeitsruhe für alle Menschen (bes. auch Sklaven) und Nutztiere, wie sie am Neumondtag und am Sabbat (vgl. Ex 23,12) geboten ist, nur ein Hindernis für ihren Profit (V5a); (2) Sie betreiben eine allein auf Gewinnsteigerung betriebene Geschäftspolitik (Preise erhöhen / Gewichtssteine verkleinern) und schrecken dafür auch vor Betrug (Gewichte fälschen) nicht zurück (V5b). (3) Sie betreiben Menschenhandel, indem sie die Opfer ihrer Wirtschaftspolitik (ver)kaufen (Hilflose und Arme, V6a). (4) Selbst den «Abfall des Korns» vermarkten sie (V6b). Diesen ungerecht und egoistisch Herrschenden verkündet Amos mit krassen Worten das Gericht Gottes (V7), welches für ihn v. a. in einer Vernichtung der Vernichter besteht (z. B. 3,1–6,14).

Der prophetischen Kritik des Amos (wie des Hos; Jes 1–39; Mi) wurde von den Mächtigen kein Gehör geschenkt. Doch das 8. Jh. v. Chr. endete mit zwei Katastrophen, welche der Kritik Recht zu geben schienen: Um 722 v. verwüsteten die Assyrer das Nordreich und um 701v. ganz Juda, wobei Jerusalem in die Vasallenschaft geriet. Erst rund 100 Jahre nach Amos Wirken wurden in der Mitte des 6. Jh. v. Chr. in Juda die sozialen Ungerechtigkeiten auf verschiedenen Ebenen zu beheben versucht (in der sog. joschijanischen Reform): 1. wurde der Königszehnt abgeschafft: Statt dem König für seinen Palast und sein Heer den Zehnten abzuliefern, soll das ganze Volk ein grosses Fest feiern (Dtn 14,22 f.); 2. wurde der Kriegsdienst eingeschränkt: Wer sich eine neue Existenz aufbaute, frisch verlobt oder verheiratet war und wer sich vor dem Krieg fürchtete, wurde vom Kriegsdienst befreit (Dtn 20,5–8; 24,5); 3. wurde das Kreditwesen gemildert: Das Pfänden wurde eingeschränkt (Dtn 24,6.12 f. 17), das Zinsnehmen verboten (Dtn 23,20) und in jedem siebten Jahr ein Schuldenerlass angeordnet (Dtn 15,1–11); 4. sollte bei der Ernte immer etwas für die Ärmsten übrig bleiben: Die Nachlese wurde verboten (Dtn 24,17–22) und der «Mundraub» legitimiert (Dtn 23,25 f.). Inwieweit sich diese Reformen real durchsetzen konnten, ist historisch umstritten. Immerhin zeigen diese sozialethisch hoch stehenden Gesetzgebungen, welch gesellschaftsverändernde Kraft Gottes Option für die Armen, wie sie von Amos verkündet wurde, freizusetzen vermag.

Mit der Kirche lesen

Die Parabel Jesu (V1–8a) wird oft als anstössig empfunden,2 weil hier die Ungerechtigkeit eines Verwalters als Klugheit gelobt (V8a) wird. Das kann doch nicht sein, oder? Zunächst: Ob der Verwalter bei seinem Boss, einem «reichen Mann» (V1), zu Recht wegen Verschwendung des Vermögens beschuldigt wird, bleibt im Gleichnis offen. Zweitens: Dem Verwalter wird die Entlassung angekündigt, noch bevor er seinen Rechenschaftsbericht vorlegen kann (V2). Drittens stellt sich die Frage, wie das Verhalten des Verwalters in V3–7 einzuschätzen ist: Handelt er «nach Art eines skrupellosen Geschäftsmannes», der «die letzte ihm sich bietende Gelegenheit nützt», um sich eine Lobby zu schaffen, welche ihm dann nach der Entlassung eine bequeme Existenz sichert (V4), und der durch dieses Verhalten zeigt, dass er tatsächlich ein ungetreuer Verwalter ist?3 Es könnte sein: Das Lob dieses «Verwalters der Ungerechtigkeit» (wörtl. V8a) bedeutete in diesem Fall eine Radikalkritik am Reichtum (dem «ungerechten Reichtum» V11), indem der Betrug an den Betrügern legitimiert würde – ähnlich wie Amos die Vernichtung der Vernichter als Gerechtigkeit Gottes empfand. Eine etwas mildere aber dennoch auch deutliche Kritik ergibt sich, wenn man annimmt, der Verwalter handle innerhalb seiner Kompetenzen und erlasse den Schuldnern seines Herrn lediglich die Zinsen. In diesem Fall ist das Lob eine Kritik an der Zinsnehmerei, welche die Reichen noch reicher und die Armen noch ärmer macht.

Der abschliessende Deutespruch V13 überbietet die Kritik am Reichtum gar noch, indem er einen unüberbrückbaren Gegensatz zwischen Gott und Mammon (= die materiellen Güter insgesamt) zeichnet: Man kann nur dem einen oder dem andern dienen. Und so liegt Lk 16,1–8a.13 auf der Linie jener ntl. Aussagen, die im Verzicht auf allen Besitz ein Kriterium für die Jüngerschaft Jesu sehen (Lk 12,33; 14,33; 18,22), was kirchengeschichtlich in den Armutsbewegungen, allen voran zur Zeit des hl. Franziskus, wieder aufgenommen wurde.