Wir beraten

Demut und Ermächtigung   

Peter Zürn zur Lesung am 23. Sonntag im Jahreskreis SKZ 35/2007

Alttestamentliche Lesung: Weisheit 9,13–19
Evangelium: Lk 14,25–33

Demut und Ermächtigung – Wir sind gewohnt, dass sich das gegenseitig ausschliesst. Ist es weise, beides miteinander zu verbinden?

Mit Israel lesen

Dieser Abschnitt müsste eigentlich leer bleiben. Das Buch der Weisheit wird im rabbinischen Schrifttum nie zitiert oder auch nur erwähnt, im heutigen Synagogengottesdienst wird nicht daraus gelesen. Es ist – obwohl ohne Zweifel eine jüdische, vorchristliche Schrift – nur in der christlichen Kirche überliefert worden (zu den Gründen siehe unten). Dass ich hier den Lesungstext aus dem Buch der Weisheit mit einer anderen jüdischen Überlieferung verbinde, ist denn auch meine Lesart der Texte – eine Übung in Demut und Ermächtigung.

Kapitel 9 ist als Gebet Salomos gestaltet. Die Auswahl der Leseordnung stellt die Verse heraus, die von der Begrenztheit menschlicher Erkenntnis sprechen:

«Wir erraten kaum, was auf der Erde vorgeht / und finden nur mit Mühe, was doch auf der Hand liegt») (9,16

Aus dieser Einsicht heraus, die auch heute noch – trotz aller Erfolge der Wissenschaften – gültig ist, liegt die Folgerung nahe:

«Wer kann dann ergründen, was im Himmel ist?» (9,16b).

«Welcher Mensch kann Gottes Plan erkennen / Wer begreift, was Gott will?» (9,13).

Ist das die Botschaft? Wenn wir schon beim Begreifen dessen, was doch greifbar «auf der Hand liegt», an unsere Grenzen kommen, dann sollen wir uns doch nicht anmassen, etwas von Gottes Plan mit der Schöpfung verstehen zu wollen. Mir ist diese Botschaft aus meiner religiösen Sozialisation vertraut. Mit dem Buch der Weisheit hat sie indes wenig zu tun. Denn das spricht klar davon, dass der Plan Gottes für Menschen erkennbar ist, dass die Menschen lernfähig sind und dass das Lernen gottgefällig ist. Durch den Heiligen Geist, durch die Weisheit, die Gott schenkt, ist das Menschen möglich (9,17–19).

Der Lesungstext ist geprägt von einer echten Demut angesichts der komplexen Geheimnisse und Rätsel des Lebens. Er ist aber genauso geprägt vom Vertrauen in die Möglichkeiten der Menschen, Wesentliches über das Leben zu lernen, Gottes Wirken in der Welt zu verstehen und ihr Leben entsprechend zu gestalten. Nicht aus eigenem Verdienst – die Demut ist echt und bleibt die tragfähige Grundlage von allem – sondern mit dem Geschenk der Weisheit. Dieses Geschenk ist eine grosse Ermächtigung. Davon sprechen die Verse des Gebetes, die die Leseordnung weglässt. Sie gründen in der biblischen Schöpfungstheologie:

«Die Menschen hast du durch deine Weisheit erschaffen / damit sie über deine Geschöpfe herrschen» (d. h. Macht und Verantwortung haben) Sie sollen die Welt in Heiligkeit und Gerechtigkeit leiten / Und Gericht halten in rechter Gesinnung» (9,2–3).

Die Weisheit Gottes ist von allem Anfang an in uns, sie ist unser schöpferisches Prinzip. Sie verbindet uns durch die Zeiten hindurch mit Gott, denn «mit dir ist die Weisheit, die deine Werke kennt» (9,9a). Sie zeigt sich in der Gestaltung von Beziehungen zwischen den Geschöpfen Gottes. In Weisheit gestaltete Beziehungen werden denen gerecht, die in der einen Welt miteinander verbunden sind. In Weisheit gestaltete Beziehungen schaffen Raum für Berührungen mit dem heiligen Geheimnis allen Lebens. Solche Beziehungen können scheitern und zerbrechen. In gerechter Gesinnung darüber Gericht zu halten, Verantwortung zu übernehmen und Entscheidungen zu treffen, macht neue Anfänge möglich. Die Weisheit «weiss, was dir (Gott) gefällt und was recht ist nach deinen Geboten» (9,9b), sie ist gegenwärtig in den überlieferten Weisungen für das Leben der Menschen und in ihrer je aktuellen Auslegung und Vergegenwärtigung. Zu all dem sind wir Menschen durch die Weisheit Gottes ermächtigt. Demut und Ermächtigung sind keine Widersprüche, sondern eng miteinander verbunden. Sie machen zusammen uns Menschen aus. Das drückt für mich die folgende jüdische Geschichte aus:1

«Rabbi Bunam sprach zu seinen Schülern: «Jeder von euch muss zwei Taschen haben, um nach Bedarf in die eine oder andere greifen zu können: in der rechten liegt das Wort: «Um meinetwillen ist die Welt erschaffen worden» und in der linken: «Ich bin Erde und Asche». Martin Buber gibt als Beleg für den Satz in der rechten Tasche das Talmud- Traktat Sanhedrin (37) an, der Satz in der linken Tasche bezieht sich auf Gen 18,27. Dort gibt Abraham ein eindrucksvolles Beispiel für die Verbindung von Demut und Ermächtigung in Heiligkeit und Gerechtigkeit, wenn er mit Gott um das Leben der Menschen in Sodom ringt (vgl. SKZ 29–30/2007).

Mit der Kirche lesen

Die enge und unauflösbare Verbindung zwischen Demut und Ermächtigung kommt auch im Text aus dem Lukasevangelium zum Ausdruck. Leider haben in der Wirkungsgeschichte die «Texte in der linken Tasche», die die Nachfolge Jesu mit dem Tragen des Kreuzes und dem Verzicht auf Besitz verbinden (Lk 14,27.33), viel stärker gewirkt. Werden nur sie wahrgenommen, fällt weg, was in der rechten Tasche zum Greifen nahe liegt und in der Perikope der Leseordnung das Zentrum des Textes bildet. Menschen werden in der Nachfolge Jesu ermächtigt, indem sie mit Bauunternehmerinnen und Bauunternehmern verglichen werden, die für das Projekt eines Turmbaus Verantwortung tragen sowie mit Königinnen und Königen, die Entscheidungen treffen müssen, die Krieg und Frieden und das Schicksal Tausender betreffen. Wahrlich Bilder, die demütig machen ohne dadurch irgendetwas von der Ermächtigung und der Verantwortung wegnehmen.

Das Buch der Weisheit in Judentum und Christentum

Das Buch des Weisheit ist ein Werk des Judentums in Ägypten, das hellenistisch geprägt war (vgl. SKZ 31–32/2007). Das Verhältnis zwischen dem griechischsprachigen Diasporajudentum und dem pharisäisch-rabbinisch geprägten Judentum in Palästina, bei dem die hebräische Bibel im Zentrum stand, war gespannt. Es ging um Abgrenzung oder Inkulturation gegenüber der hellenistischen Kultur. Die Kriege und Aufstände gegen die römische Herrschaft im 1. und 2. Jahrhundert hatten verheerende Folgen für das Judentum in Palästina und in der Diaspora. Der Wiederaufbau nach den Katastrophen ging von pharisäisch- rabbinischen Kreisen in Palästina aus. Die Hebräische Bibel wurde zum Kanon, hellenistisch- jüdische Traditionen wurden kaum aufgegriffen. Parallel dazu erlangte die griechische Bibel, die Septuaginta (und darin das Buch der Weisheit), in der entstehenden christlichen Kirche immer grössere Bedeutung. Und als die Trennung zwischen Judentum und Christentum voranschritt und die jeweils andere Seite immer massiver abgelehnt wurde – woraus sich im Christentum schon bald ein militanter Antijudaismus entwickelte – gab es im Judentum immer weniger Raum für die eigene hellenistische Tradition und ihre Schriften. So verschwand dieser Zweig des antiken Judentums und wirkte nur in der christlichen Überlieferung und Verarbeitung weiter. Fordert diese Geschichte für uns Christinnen und Christen nicht Demut und ist zugleich auch eine Ermächtigung?

1 Zitiert nach Martin Buber: Die Erzählungen der Chassidim. Zürich 1949, 746.