Wir beraten

Ein Lob der Demut?   

Dieter Bauer zur Lesung am 22. Sonntag im Jahreskreis SKZ 33-34/2007

Alttestamentliche Lesung: Sir 3,17–18.20.28–29
Evangelium: Lk 14,1.7–14

«Du musst ein Schwein sein in dieser Welt», hat die Popgruppe «Die Prinzen» vor ein paar Jahren ironisch empfohlen. Der ehemalige «Tagesthemen»-Moderator Ulrich Wickert hat 1994 einen Bestseller geschrieben: «Der Ehrliche ist der Dumme.» Und bereits Wilhelm Busch hat gedichtet: «Bescheidenheit ist eine Zier. Doch weiter kommt man ohne ihr.» Grammatikalisch sicher falsch, aber sonst? Stimmt es etwa nicht?

Mit Israel lesen

Wenn wir in der heutigen Lesung von Jesus Sirach hören: «Mein Sohn, bei all deinem Tun bleibe bescheiden / und du wirst mehr geliebt werden als einer, der Gaben verteilt» (3,17), sind wir dann nicht fast versucht zu sagen: schön wär’s…?

Irgendwie hört sich das doch absolut altmodisch an.

Das ist es auch: altmodisch. Seit Urzeiten haben Eltern und Grosseltern so dahergeredet. Weil sie sich dasselbe auch schon als Kinder anhören mussten. Weisheit ist «Erfahrungswissen»

(Gerhard von Rad). Und das «Lob der Bescheidenheit» gehört zum Grundbestand weisheitlicher Überlieferungen – im Übrigen bei allen Völkern: Was bei den Griechen die Warnung vor der «Hybris» war und die Empfehlung des «goldenen Mittelweges», das war bei anderen eben die Empfehlung demütig und bescheiden zu sein.

Was dabei leider oft vergessen wird – eben weil Weisheiten so allgemeingültig daherkommen: Nicht jedem und jeder muss man Bescheidenheit ans Herz legen. Weil sich nicht jede und jeder Unbescheidenheit leisten kann! Im Buch Jesus Sirach sagt das ganz klar der folgende Vers: «Je grösser du bist, umso mehr bescheide dich, / dann wirst du Gnade finden bei Gott» (3,18). Das heisst doch aber, dass die Bescheidenheit den Grossen und Mächtigen anempfohlen wird, nicht den Kleinen und Schwachen, die sich sowieso nichts getrauen. Begründet wird diese Empfehlung im Übrigen mit einem ganz bestimmten Gottesbild: «Denn gross ist die Macht Gottes / und von den Demütigen wird er verherrlicht» (3,20).

Ein Gott, der seine Verherrlichung in den Demütigen findet, kann gar nicht der Gott der Mächtigen sein. Das wäre ein innerer Widerspruch und dazu noch unlogisch: Wer selber reich und mächtig ist, braucht nämlich keinen Gott. Er oder sie kann sich die Gunst der Mitmenschen erkaufen, etwa durch das «Verteilen von Gaben», wie es in Vers 18 hiess. Man kann Bestechungsgelder zahlen und durch Korruption vorwärts kommen. Oder man verschenkt wie die Römer «Brot und Spiele».

Es führt kein Weg daran vorbei: In dieser Beziehung ist der Gott der Bibel «altmodisch».

Er liebt die Demütigen und Bescheidenen und steht auf Seiten der Schwachen und Unterdrückten.

Als «Jesus, der Sohn Eleasars, des Sohnes Sirachs» (Sir 50,27; 51,30) unser Buch um das Jahr 190 v. Chr. in Jerusalem verfasste, war gerade eine neue Zeit angebrochen: die Nachfolger Alexanders des Grossen, der den ganzen Vorderen Orient zu einem Grossreich vereinigt hatte, hatten sich sein Reich aufgeteilt. Und die syrischen Seleukiden hatten sich gerade erst nach einem Jahrhundert von Kriegen gegen die ägyptischen Ptolemäer durchgesetzt. Das kleine Judäa war wieder einmal Spielball der Mächtigen gewesen und zutiefst gespalten. Während die eher Konservativen angesichts der griechischen Supermacht – nicht zu Unrecht! – um ihre Religion und Kultur fürchteten, setzen die «Fortschrittskräfte» auf den Hellenismus. Dem Griechentum gegenüber musste ihnen alles Angestammte als miefig und provinziell erscheinen. Ben Sira, wie ihn die jüdische Tradition nennt, versuchte dagegen am Althergebrachten festzuhalten. Er war fest davon überzeugt, dass es gerade in seiner Zeit wichtig sei, die Tradition festzuhalten – damit sich nicht alles auflöst. Und zur weisheitlichen Tradition gehörten nicht nur die Mahnung zur Bescheidenheit, die Ehrfurcht vor den Eltern und das Almosengeben, sondern auch die Gottesfurcht, die Jesus Sirach an den Anfang seines Buches stellt (Kap. 1) und ganz zum Schluss zum tiefsten Inhalt seiner Weisheitslehre erklärt (50,29).

Interessant ist, dass das Buch zu seiner Zeit offensichtlich «modern» genug war, um schon sehr bald ins Griechische übersetzt zu werden. Wir erfahren dies vom Übersetzer selbst, einem Enkel Jesus Sirachs, der seiner Übersetzung ein kleines Vorwort vorangestellt hat. Diese Übersetzung in die damalige Weltsprache Griechisch ist dann allerdings ein solcher «Bestseller» geworden, dass die hebräische Urfassung mit der Zeit verdrängt wurde. Und als das Judentum dann den Bestand seiner Heiligen Schriften festlegte, galt Jesus Sirach bereits als «griechisch» und fand keine Aufnahme in den Kanon.

Mit der Kirche lesen

In der christlichen Kirche hingegen, die mit den Schriften des griechischen «Alten Testaments» (Septuaginta) auch Jesus Sirach in seinen Kanon übernahm, spielte das Buch eine bedeutende Rolle. Besonders im Jakobusbrief wird viel daraus zitiert. Und insgesamt sind es 111 Stellen, an denen im Neuen Testament auf das Weisheitsbuch Jesus Sirach Bezug genommen wird.

Auch Jesus von Nazaret begegnet uns in den Evangelien immer wieder als Weisheitslehrer: «Als er bemerkte, wie sich die Gäste die Ehrenplätze aussuchten, nahm er das zum Anlass, ihnen eine Lehre zu erteilen» (Lk 14,7).

Trotzdem wäre es ein Missverständnis zu meinen, er würde hier allgemeingültige Aussagen treffen. Nein, er hat ganz bestimmte Leute in Blick: «Wenn du zu einer Hochzeit eingeladen bist, such dir nicht den Ehrenplatz aus» (V. 8).Wer wohl, muss man sich fragen, kommt auf eine Hochzeit und sucht sich den Ehrenplatz aus? Doch sicher diejenigen, die meinen, ein solcher stünde ihnen zu. Die Zielgruppe seiner Aussage ist also genau dieselbe wie bei Jesus Sirach: die Reichen und Mächtigen. Sie sollen sich bescheiden: «Denn wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt, und wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden» (V.11). Dies ist nun aber gerade nicht die allgemeine Lebenserfahrung. Da ist die Rede vom «Reich Gottes », in dem andere Gesetze gelten. Da wird der Gastgeber durchsichtig auf Gott selbst, der spricht: «Wenn du ein Essen gibst, dann lade Arme, Krüppel, Lahme und Blinde ein» (V.13). Das ist die Gesellschaft Jesu. Das sind die Lieblinge Gottes. Ihnen muss man keine Demut predigen. Sie sind froh, wenn sie etwas zu essen bekommen und nicht verhungern müssen.

Das Buch Jesus Sirach

Das Buch Jesus Sirach wurde um 190 v. Chr. in Jerusalem verfasst und von einem Enkel des Verfassers nach 132 v. Chr. in Alexandrien ins Griechische übersetzt. Der Verfasser versuchte mit dieser Sammlung von Verhaltensregeln und Ratschlägen in weisheitlicher Manier den althergebrachten Glauben zu bewahren. In einer Zeit schärfster Auseinandersetzung mit dem «modernen» Gedankengut hellenistischer Kultur und Philosophie bekämpfte er diese nicht direkt, sondern versuchte ihr als Gegenpol die Tora des Mose entgegenzusetzen, die er als eigentliche göttliche Schöpfungsordnung sah. Diese «Weisheit» hatte sich (aus seiner Sicht) in Jerusalem – und nur dort! – niedergelassen (Kap. 24; v. a. 24,23!).

Lesetipp: Georg Sauer: Jesus Sirach / Ben Sira (Reihe: ATD Apokryphen Bd. 1). (Vandenhoeck & Ruprecht) Göttingen 2000.