Wir beraten

Die Kraft der Erinnerung   

Rita Bahn zur Lesung am 19. Sonntag im Jahreskreis SKZ 31-32/2007

Alttestamentliche Lesung: Weish 18,6–9
Evangelium: Lk 12,32–48

Manche biblischen Texte machen es heutigen Zuhörern und Leserinnen nicht leicht, sich ihnen zu nähern und sie offenen Herzens aufzunehmen.

Der Abschnitt aus dem Buch der Weisheit erscheint uns möglicherweise wie ein Propagandatext – ob seiner Zuspitzung und Schwarz-Weiss-Malerei eher abstossend und auch vom Stil her nicht gerade einladend. Gerade deswegen könnte er uns andererseits neugierig machen: Welchen Lebens- und Glaubensumständen galten diese Worte? Findet sich womöglich eine gedankliche Kostbarkeit in ihnen? Worum geht es eigentlich?

Mit Israel lesen

Wahrscheinlich in der ersten Hälfte des 1. Jahrhunderts in Alexandria entstanden, ist das Buch der Weisheit als fiktive Mahnrede König Salomos an die Machthaber angelegt.

Seit 30 v. Chr. ist Alexandria von den Römern besetzt, Hauptstadt der römischen Provinz Ägypten. 40% seiner Einwohner sind Sklaven und Sklavinnen. Ca. 20% der Bewohnerinnen und Bewohner bilden die bedeutendste jüdische Gemeinschaft ausserhalb Israels. Überhaupt sind die meisten der in Alexandria Lebenden Zugewanderte unterschiedlicher Kulturen und Religionen. Dass Gerechtigkeit in all ihren Facetten in einem solchen Schmelztiegel und unter diesen historischen Umständen ein Thema ist, erscheint selbstverständlich; und sie ist auch ein wichtiges Thema im Buch der Weisheit.

Unser Lesungstext ist dem dritten und längsten Teil des Buches (11,2–19,22), entnommen, der in Gebetsform abgefasst ist und die Exodustraditionen für die damalige Zeit aktualisieren will. Auch in unserem Abschnitt geht es ja um «jene Nacht», die «Nacht der Befreiung» (wie der Text für die Liturgie durch Ergänzung verdeutlicht), die von überragender Bedeutung ist: In ihr wurde nicht nur das Volk aus der Knechtschaft herausgeführt. Weit zurück in der Vergangenheit wurde diese Nacht bereits den Urvätern Abraham, Isaak und Jakob zu Sinnstiftung und Freude (in der Einheitsübersetzung schwach mit «zuversichtlich sein» übersetzt) angekündigt (vgl. Gen 15,13 f.). In der Gegenwart wird sie in jeder Pesachfeier gegenwärtig gesetzt und hat Einfluss auf Lebenshaltung und -gestaltung im Alltag. So verbindet die Nacht der Befreiung alle Generationen, Gestorbene, Lebende und erst noch Kommende miteinander, und zeigt – mehr noch – wie die Zeit und mit ihr das Leben der Menschen eingebettet sind in Gott.

Wie mag es also den Adressatinnen und Adressaten mit diesem Text gegangen sein? Die jüdischen Einwohner Alexandrias waren, wenn es gut ging, in einer zwiespältigen Lage: Das Bürgerrecht wurde ihnen in aller Regel verweigert, und sie mussten deshalb eine Kopfsteuer zahlen. Andererseits gestand man ihnen z. B. eigene Gerichtsbarkeit und Finanzverwaltung zu. Wirklich integriert war die jüdische Gemeinde also nicht, und das führte, wenn es schlecht ging, immer wieder auch zu Auseinandersetzungen und Pogromen. Fremdenhass wird im Weisheitsbuch ausdrücklich thematisiert (19,13– 17). Was uns übertrieben und allzu einfach vorkommen mag: «Da sind die Feinde und Gegner, die Untergang und Strafe verdient haben. Wir hingegen sind die Gerechten, die frommen Söhne (und Töchter) der Guten, die Heiligen, die Rettung und Verherrlichung erfahren», erschien den bedrängten Menschen damals vermutlich in einem anderen Licht. Sie schauen zurück in die Vergangenheit und sehen auch dort schwierige Zeiten. Trotzdem müssen sie sich von diesen Erinnerungen nicht fesseln und lähmen lassen. Ihr Rückblick kann ihnen Zuversicht für Gegenwart und Zukunft geben, sofern es ihnen gelingt, die alten schwierigen Erfahrungen in einen sinngebenden Zusammenhang einzubetten. Dann wird ihnen möglich zu erkennen, dass Krise Gefahr wie Gelegenheit bedeutet. Dann schenken ihnen ihre Erinnerungen Hoffnung auf Gerechtigkeit, richten sie auf und stärken neben Belastbarkeit und Widerstandskraft ihre Identität.

Das wohl will der Text bewirken, wenn er die Freude der Väter über Gottes Verheissung und ihr Vertrauen auf seine Begleitung beschwört, wenn er beschreibt, wie das Gute über das Böse gesiegt hat, wenn er darauf hinweist, dass das Volk nicht nur gerettet, sondern zu Gott gerufen wurde, also in eine personale Beziehung zu ihm treten darf, vor ihm Würde und Bedeutung hat. Stilistisch geschickt tut er dies ohne Namen oder Orte zu benennen: Jeder weiss, worum es geht; aber durch die formale Anonymität wird der Text offen für gegenwärtige Erlebnisse. Wie in ein Raster kann man in ihn eigene Erfahrungen einfügen und ein Gefühl dafür bekommen, selbst mit seinem ganzen schrecklichen und schönen Leben eingebettet und geborgen zu sein in Gott. So gibt das Buch der Weisheit eine Entscheidungshilfe für die Treue zum Glauben und eine Wegweisung für das konkrete alltägliche Leben in einem multikulturellen Umfeld.

(Über die Zulässigkeit polarisierender, schubladisierender, zumindest missverständlicher Formulierungen in religiösen Texten zu sprechen, wäre dennoch gerade heute wichtig.)

Mit der Kirche lesen

Das «Fürchte dich nicht!» zu Beginn des Sonntagsevangeliums kann als explizite Zusammenfassung der indirekten Botschaft des Lesungstextes gelten. Und auch die Aufforderung, sich unzerstörbare – ideelle – Schätze zu schaffen, knüpft gut daran an.

Wenn wir also dem Beispiel des Buchs der Weisheit folgend als einzelne Menschen in die Vergangenheit blicken, fragen wir: Habe ich persönliche Befreiungserlebnisse gehabt? Oder welche anderen Erinnerungen helfen mir, wenn mein Leben einmal unerträglich zu sein scheint? Und: Was will ich heute und in Zukunft ganz bewusst an kostbaren Schätzen in mein Innen aufnehmen und mich davon erfüllen lassen (Schönheit, Dankbarkeit, . . .)?

Wenn wir in der Gemeinschaft der Christinnen und Christen zurückschauen, denken wir darüber nach: Haben wir uns das Leben, den Tod und die Auferstehung Jesu so zu eigen, so «innen» gemacht, dass uns die Er-inne-rung daran in unserem Alltag trägt? Dass wir beispielsweise Scheitern nicht nur als Ende betrachten, sondern auch als Chance zu etwas Neuem oder dass wir nach jedem kleinen Tod wieder die Kraft zum Aufstehen finden? Und: Ist uns eigentlich mit dem Exodus auch die Befreiungserfahrung unserer Vorväter und Vormütter wirklich zu eigen geworden?

So können wir uns als eingebettet und geborgen in Gott erfahren und uns – auch im Sinn des Evangelientextes – wach und achtsam unserem Heute stellen: Wir wissen, dass jeder Augenblick in der liebevollen Gegenwart Gottes geschieht, und wir rechnen damit, dass er sich unseren Sinnen und unserem Herzen jederzeit spürbar zeigen kann!