Wir beraten

Rollenwechsel – oder: Isst Gott «unkoscher»?   

André Flury-Schölch zur Lesung am 16. Sonntag im Jahreskreis SKZ 27-28/2007

Alttestamentliche Lesung: Gen 18,1–10a
Evangelium: Lk 10,38–42

Die Rollen, die wir Menschen in unseren verschiedenen Lebensbereichen einnehmen, sind häufig sinnvoll: Sie können z.B. Sicherheit geben und ein gutes Zusammenspiel von unterschiedlichen Menschen und Charakteren ermöglichen. Rollen können jedoch auch zum Korsett werden, das einem den Atem nimmt und die Möglichkeit entzieht, sich auch anders zu bewegen, anders zu entfalten – authentischer und Gottes Willen besser entsprechend. In diesem Fall gilt es, einen Rollenwechsel vorzunehmen, den Ausbruch aus festgefahrenen Rollen zu wagen. Sowohl die Lesung als auch das Evangelium können dazu ermutigen.

Mit Israel lesen

In vielen biblischen Erzählungen bricht Gott selber aus Rollen aus, die ihm durch Menschen – Gläubigen wie Ungläubigen – üblicherweise zugeschrieben werden. Gen 18 ist ein Musterbeispiel dafür, und zwar gleich in mehrfacher Hinsicht: (1) Es gehört zum jüdisch- biblischen «Credo», dass kein Mensch Gott sehen kann (vgl. z. B. Ex 33,18–20). Von Abraham wird jedoch in Gen 18 wie selbstverständlich erzählt, dass er am Zelteingang sitzt, seine Augen erhebt und drei «Männer» sieht (18,2), von welchen einer als JHWH/ GOTT bezeichnet wird (18,1.13 f.). Das scheinbar Unmögliche wird hier als Möglichkeit geschildert: Ein Mensch sieht GOTT – weil GOTT ihn besucht, weil Gott entgegen seiner gewöhnlichen «Rolle» als Unsichtbarer für einmal so beschrieben wird, dass er sich sehen lassen will.

(2) Es ist ebenso unaufgebbare Glaubenssache, dass es nur einen GOTT gibt (Jes 44,6; SKZ 24/2007). Doch in Gen 18 erscheint GOTT dem Abraham so, dass Abraham drei Männer (hebr. anaschim) dastehen sieht (18,1 f.). Das Aussergewöhnliche für die damalige ziemlich patriarchale Zeit ist nicht, dass es Männer sind, sondern dass es drei menschliche Gestalten sind, welche der Text in geheimnisvoller Schwebe lässt zwischen GOTT, Menschen und Engeln (vgl. 19,1.15). Jene christlichen wie jüdischen1 Versuche, welche die drei Gestalten in eindeutigerWeise erklären wollen (Trinität; drei prophetische Männer; JHWH und zwei Engel), bleiben hinter dem Rätselhaften der Erzählung zurück. Und vielleicht will Gen 18 genau dies: Das Geheimnisvolle Gottes betonen, zum Ausdruck bringen, dass Gott vielfältiger ist, als wir es uns vorstellen können, dass Gott immer wieder überraschend, immer wieder anders, grösser – mitunter aber auch kleiner, sprich: menschlicher erscheinen kann, als unser «Drehbuch» es vorsieht. (3) Normalerweise ist es Gott, der Schöpfer allen Lebens, der den Menschen Nahrung gibt zur rechten Zeit (Ps 104,27; 145,15) und der die Menschen zu einem Festmahl einlädt (Jes 25,6; vgl. Mt 22,1–14). In Gen 18 werden jedoch die Rollen getauscht: GOTT erscheint als Gast und lässt sich von Sarah, Abraham und dessen Knecht bekochen. Am meisten überrascht dabei, was Abraham den göttlichen Gästen zum Essen vorsetzt: Abraham trägt ihnen «Butter, Milch und Kalbfleisch» auf – und sie essen davon (18,8). Übertritt GOTT damit eines der grundlegenden biblischen Speisegebote:2 «Du sollst ein Böckchen nicht in der Milch seiner Mutter kochen» (Ex 23,19; vgl. 34,26; Dtn 14,21), welches spätestens seit talmudischer Zeit so verstanden wurde, dass man gemäss Gottes Willen Milchprodukte nicht zusammen mit Fleisch essen darf?

Ein Gott, der seine eigenen Gebote übertritt? Was soll das bedeuten? Jüdische Auslegungen versuchen, die Sachlage zu mildern: So wird etwa gesagt, das Fleisch sei erst später aufgetragen worden – was kaum Anhalt im Text hat. Oder es wird argumentiert, die Speisegebote seien erst seit Mose in Kraft getreten und nicht schon bei Abraham. Diese Argumentation hat etwas für sich. Doch:Warum sollte Gott hier etwas in derart exponierter Weise tun, was er «später» verbieten wird?3 So erscheint die Annahme möglich, dass die biblische Erzählung hier Gott bewusst religiöse Konventionen durchbrechen lässt, die sonst für unumstösslich gelten. Damit aber nimmt Gott eine Gewichtung seiner eigenen Gebote vor: Wichtiger als kultisch-religiöse Gebote ist für Gott die Annahme der menschlichen Gastfreundschaft! Gott is(s)t da, wo man ihn einlässt/einlädt. Wichtiger als kultisch-religiöse Normen ist für Gott in Gen 18 zweitens die Verheissung der Zukunft: Abraham und Sara wird eine Kind verheissen, das für die Zukunft Israels steht.

Gen 18 zeigt somit in verschiedenen Facetten: Für GOTT ist nichts unmöglich (18,14) – auch nicht das Ausbrechen aus Rollen, die ihm üblicherweise zugeschrieben werden.

Mit der Kirche lesen

Um ein Ausbrechen aus einer gesellschaftlich vorgegebenen Rolle geht es auch in der Erzählung von Maria und Marta: Marta bleibt in den Konventionen ihrer Zeit, sie spielt die Rolle, die einer Frau damals zukommt: Sich am Herd aufhalten und für die Gäste sorgen.4 Maria hingegen bricht aus dieser Rolle aus: Sie setzt sich Jesus zu Füssen und hört sein Wort, nimmt – anders gesagt – an der Tischgemeinschaft und der theologischen Diskussion der Männer teil. Dies wird von Jesus legitimiert, wenn er zu der sich enervierenden Marta sagt: «Maria hat das Bessere/ Gute gewählt, das soll ihr nicht genommen werden.» Es geht hier nicht um eine Abwertung von Martas tätiger Gastfreundschaft bzw. Nächstenliebe (vgl. die unmittelbar vorangehende Erzählung vom barmherzigen Samariter), sondern um Jesu Anerkennung und Legitimation, dass auch Frauen an seiner Tischgemeinschaft teilnehmen und in seiner Nachfolge stehen.

Lesung und Evangelium können uns dazu ermutigen, offen zu bleiben für Neues, unsere je eigene Lebensrolle immer wieder neu zu suchen, Veränderungen zu wagen. Sie können uns auch ermutigen, im Glauben lebendig zu bleiben, d. h. Gott nicht auf ein einziges, uns lieb gewordenes Gottesbild zu beschränken, sondern von Gott auch Grösseres und Überraschendes zu erwarten, etwa so, wie es Kurt Marti in einem Gedicht zum Ausdruck bringt:

Noch bevor wir dich suchen, Gott, warst du bei uns.

Wenn wir dich als Vater anrufen, hast du uns längst schon wie eine Mutter geliebt.

Wenn wir Herr zu dir sagen, gibst du dich als Bruder zu erkennen.

Wenn wir deine Brüderlichkeit preisen, kommst du uns schwesterlich entgegen. Immer bist du es, der uns zuerst geliebt hat.

1 Vgl. den überaus lesenswerten Genesiskommentar des Rabbiners Benno Jacob: Das Buch Genesis. Stuttgart 2000, 435–437.
2 Dazu gehören weiter die Einteilung in reine (zum Essen erlaubte) und unreine (zum Essen nicht erlaubte) Tiere (Lev 11) sowie das Verbot, Blut zu essen (Gen 9,4; Lev 17,11f.), woraus das Schächten als Schlachtmethode resultiert.
3 Historisch gesehen ist zudem Gen 18* wahrscheinlich erst später entstanden als das sog. Bundesbuch Ex 20,22–23,33.
4 Vgl. Renate Wind: Maria aus Nazareth, aus Bethanien, aus Magdala. Drei Frauengeschichten. München 31999, 56. Weiterführend Gerhard Hotze: Jesus als Gast. Studien zu einem christologischen Leitmotiv im Lukasevangelium (FzB 111). Würzburg 2007