Wir beraten

An die Gerechtigkeit Gottes appellieren   

André Flury-Schölch zur Lesung am 17. Sonntag im Jahreskreis SKZ 29/30/2007

Alttestamentliche Lesung: Gen 18,20–32
Evangelium: Lk 11,1–13

Wir sind uns häufig gewohnt, brav und schön, bescheiden und gebührlich zu beten. Die Lesung und das Evangelium ermutigen jedoch zu einem engagierten Beten, welches Gott auf seine Gerechtigkeit hin anspricht und das Kommen seines Reiches mit aller Kraft erwartet.

Mit Israel lesen
Die Lesung ist eng verbunden mit der Erzählung Gen 18,1–10 vom letzten Sonntag (vgl. SKZ 27–28/2007) sowie mit den Versen 11–19: JHWH will Abraham nicht verheimlichen, was er mit Sodom und Gomorra zu tun gedenkt (18,17), denn durch Abraham «sollen gesegnet werden alle Nationen der Erde» (18,18). Gott erinnert sich also daran, wozu Abraham, der für das ganze ‹spätere› Volk Israel steht,1 berufen worden ist: Ein Segen für alle Völker der Erde zu werden (Gen 12,1–3). Dies ist nach Gen 12 und 18 der Sinn und Auftrag der jüdischen Volks- und Glaubensgemeinschaft. Doch: Wie wird «Abraham» ein Segen für andere Völker? Indem er «Gerechtigkeit und Recht» lehrt und tut (18,19). Beides, das Ziel der Berufung Abrahams sowie die Frage nach Recht und Gerechtigkeit, ist der Hintergrund, auf dem das Zwiegespräch von Abraham mit Gott verstanden werden will.

Sodom und Gomorra sind zum Symbol für die Schlechtigkeit an sich geworden: Von sexueller Gewaltanwendung über die Hybris bis hin zur missachteten Gastfreundschaft wird hier die Gottlosigkeit «versammelt » (Gen 19). Und so erscheint es nichts wie Recht, dass Gott damit ein Ende macht. Doch da tritt überraschenderweise Abraham auf den Plan, indem er wie selbstverständlich bei JHWH stehen bleibt und Gott wie jemanden, den er zur Rechenschaft ziehen kann, fragt: «Willst du auch den Gerechten mit dem Ruchlosen wegraffen?» (18,23). Das heisst: Kann es Gott in Kauf nehmen, bei der Bestrafung von Frevlern auch Unschuldige / Gerechte zu treffen? Und: Ist das Geschick des Gerechten genau das gleiche wie jenes des Ungerechten, des Frevlers und Gottlosen (18,25)? Dies alles widerspricht offenbar Abrahams und d. h. wohl dem menschlichen Gerechtigkeitsempfinden. Daraus resultiert die noch grundlegendere Frage: Sollte sich Gott, der Richter über die ganze Erde, nicht an das Recht halten (18,20)? Diese Frage Abrahams zielt auf das Gottesbild: Gott kann gemäss Gen 18,20–32 nicht alles Beliebige tun. Gott kann nicht willkürlich handeln oder ungerecht richten. Abraham appelliert an die Gerechtigkeit Gottes: Gott hat sich als Richter der ganzen Erde selber an das Recht zu halten (damit widerspricht Gen 18,20–33 deutlich den Aussagen von Jes 45,7, gemäss denen Gott Heil und Unheil schafft). Der jüdische Exeget Ehud Ben Zvi sieht in Gen 18,20–32 – wohl etwas anachronistisch – gar eine Beschränkung der praktischen, funktionalen Allmacht Gottes diskutiert, (a) da sich Gott an Standards zu halten habe, was zu tun / nicht zu tun sei; (b) da diese Standards von einem Menschen gekannt werden können; (c) da Gerechtigkeit – sowohl göttliche wie menschliche – nach individueller und nicht nach kollektiver Bestrafung verlange.2 Wie dem auch sei – Gen 18,20–32 ist ein Appell an die Gerechtigkeit Gottes: Insofern und weil Gott gerecht ist, kann Gott nicht ungerecht richten, sondern muss wahrhaftiges Recht schaffen. Und zudem an die Barmherzigkeit Gottes:Wenn es zehn Gerechte gibt, wird Gott der ganzen Stadt vergeben, um der zehn willen (18,24).

Warum das «Verhandeln» Abrahams mit Gott gerade bei zehn Gerechten aufhört, hat in der Auslegung verschiedene Interpretationen gefunden, v.a.: (1) Weil zehn der traditionellen Zahl des minjan, der Grundversammlung im synagogalen Gottesdienst entspricht. Aufgrund der jüdischen Versammlung würde also eine ungerechte Stadt / Welt verschont. (2) Abraham habe Lot im Blick, der zusammen mit seiner Frau, seinen beiden Töchtern sowie deren anvertrauten Männern bereits sechs Personen ausmacht, womit Abraham keinen weiteren Fünfer- Schritt (wie von 50 auf 45) heruntergehen könne. Entscheidend jedoch ist, dass Gen 18,20–32 keinesfalls aussagt, weniger als zehn Gerechte könnten von Gott dahingerafft werden, denn schliesslich werden ja drei Leute, Lot und seine beiden Töchter, gerettet (19,12–26).

Gen 18,20–32 nimmt auch Abraham / Israel in die Pflicht: Da Abraham dazu berufen ist, dass alle Nationen der Erde durch ihn gesegnet werden, muss Abraham / Israel erstens auch beim ärgsten Feind mit Gerechten, d. h. mit Gerechtigkeit und Gottesfrucht rechnen. Und zweitens soll Israel auch für die schlimmsten Übeltäter bei Gott eintreten und um Vergebung / Verschonung bitten – um der Gerechten willen. Ersteres wird auch in der nachfolgenden Erzählung Gen 20,1–18 deutlich: Abraham verleugnet hier seine Frau Sarah ein zweites Mal, und zwar weil er meint, es gebe bei Israels Erzfeind, bei den Philistern / dem Philisterkönig Abimelech «keine Gottesfurcht» (20,11). Doch Abraham wird von Abimelech und von Gott eines Besseren belehrt: Abimelech hat mit «arglosem Herzen und reinen Händen» gehandelt (20,5 f.), und Abraham muss für Abimelech und sein Haus beten, damit sie Leben haben (20,7.17). Dies aber ist ein Beten, das ein persönliches Engagement erfordert und selbst für die Feinde das Heil Gottes im Blick hat.

Mit der Kirche lesen
Es ist nicht möglich, in wenigen Zeilen dem grossen Gebet Jesu gerecht zu werden. Es seien lediglich zwei Aspekt hinsichtlich der Art und Weise des Betens hervorgehoben, die einen Bezug zur Lesung haben: Jesus lehrt seine Jüngerinnen und Jünger nicht, eine gemächlich-gemütliche Art zu beten. Er lehrt sie vielmehr engagiert und beharrlich wie Abraham um das Kommen des Reiches Gottes, welches auch Recht und Gerechtigkeit umfasst, zu beten: Wie zu einem Freund, den man mitten in der Nacht stören darf, sollen sie Gott darum bitten (Lk 11,5–8). Solches Beten geht einher mit dem Einsatz des eigenen Lebens. Es ist ein Beten, wie es Jesus selber praktiziert hat nach dem Zeugnis des Lukasevangeliums3 oder des Hebräerbriefes: «Als er auf Erden lebte, hat er mit lautem Schreien und unter Tränen Gebete und Bitten vor den gebracht, der ihn aus dem Tod retten konnte, und er ist erhört und aus seiner Angst befreit worden» (Hebr 5,7). Jesus lehrt die Seinen zudem ein vertrauensvolles Beten, ähnlich vertrauensvoll, wie Abraham mit Gott in ein Zwiegespräch getreten ist: Mit «Vater» / «Abba», also «lieber Papa», sollen sie Gott ansprechen. Durch diese vertrauensvolle Anrede Gottes wird das Vaterunser zum «Gebet der Kinder Gottes» (Ulrich Lutz). Ihre Gottesbeziehung ist genährt durch die Erfahrung, dass «der Vater im Himmel den Heiligen Geist denen gibt, die ihn bitten» (11,13).

1 Es spricht vieles dafür, dass Gen 12–50 von Anfang an als Volksgeschichte geschrieben wurde (vgl. grundlegend: Erhard Blum: Die Komposition der Vätergeschichte (WMANT 57). Neukirchen 1984).
2 Vgl. Ehud Ben Zvi: The dialogue between Abraham and YHWH in Gen 18:23–32: A historical-critical analysis, in: JSOT 53 (1992), 27–46.
3 Bei Lk betet Jesus immer wieder – vor entscheidenden Lebenssituationen bis hin zum Tod am Kreuz: 3,21; 5,16; 6,12; 9,18.28 f; 11,1; 22,32.39–46; 23,34.46.