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Gesetze und Werte   

Winfried Bader zur Lesung am 15. Sonntag im Jahreskreis SKZ 27-28/2007

Alttestamentliche Lesung: Dtn 30,10–14
Evangelium: Lk 10,25–37

Nicht erst, wenn man den Studienplan einer rechtswissenschaftlichen Fakultät studiert, entdeckt man die Vielfältigkeit und die Vielzahl der Gesetze und Vorschriften in unserem Staat. Auch in zahlreichen alltäglichen Verrichtungen muss man sich an Gesetze und Regeln halten. Keiner denkt von sich, ein «guter» Mensch zu sein, wenn er sich daran hält. Aber immerhin bewahren die Verordnungen und Gesetze davor, ein straffälliger Mensch zu werden – in den meisten Fällen immerhin eine erste Voraussetzung für’s Gutsein. Die eigentlichen ethischen Werte, die über gut oder böse entscheiden, liegen für die staatlichen Gesetze im Konsens der Gesellschaft über Werte, für die Einzelnen in der persönlichen Überzeugung.

Mit Israel lesen

Genau dieses Phänomen ist es, was der Talmud mit dem «Zaun um die Lehre» bezeichnet. Die vielen Vorschriften sind nicht die Lehre selbst, sondern die Schutzwehr für sie. Das Judentum kennt den Unterschied; es verwechselt nicht die Religion mit diesen Satzungen. Eine «gute Tat» ist niemals die Erfüllung eines Zeremonialgesetzes, sondern ausschliesslich die religiöse, sittliche Handlung (nach Leo Baeck, Das Wesen des Judentums).

Das ist auch der Schlüssel für das Verständnis des heutigen Lesungstextes – und umgekehrt ist der Text die Quelle für diese Überzeugung.

Das zentrale Wort im ganzen Kapitel, das auch am Ende von Vers 10 steht, ist schuw – wenden. Das Volk kehrt um, Gott dreht sich dem Volk wieder zu und das Los des Volkes wird gewendet. Gott und Volk tun dies miteinander, in dem das Volk an der Schwelle vom Wüstenzug ins verheissene Land der am Sinai erlassenen Lehre zustimmt, sich auf deren Einhaltung selbst verpflichtet und dadurch vorbereitet von Gott ins Land geführt werden zu können.

Gott mutet mit seiner Lehre nicht zu viel zu, Vers 11: «Es geht nicht über deine Kraft.» In vielen Psalmen, besonders in Psalm 119, wird dazu die Grundhaltung der Freude an der Lehre besungen. Die Freude am Gebot wird erlebt und nicht die «Last des Gesetzes», unter der man zusammenbricht. Ein jüdisches Wort sagt: «Die Bundeslade trägt die, die sie tragen.» Jedes Gebot, das ein Mensch erfüllt, trägt den Menschen und hebt ihn empor.

Die beiden weisheitlichen Bilder sind wohl ursprünglich eine Polemik gegen mesopotamische und griechische Heldenerzählungen. Dort müssen die grossen Führer in den Himmel aufsteigen oder in ferne Länder jenseits der Meere reisen, um den Göttern zu begegnen und ewiges Leben zu gewinnen. Hier dagegen ist dazu nur das Tun der Lehre nötig, und diese ist nicht – wie unsere heutigen juristischen Gesetze – fern und unerreichbar, sondern naheliegend, wie unsere Grundwerte.Weder in der Vertikalen («Aufstieg in den Himmel»), also im Verhältnis Mensch zu Gott, sind diese Gebote fern, noch in der Horizontalen («Fahrt übers Meer»), im Verhältnis der Menschen untereinander; sie sind naheliegend.

Zusammenfassender Höhepunkt ist der abschliessende Vers. Statt Lehre und Gesetz wird der Ausdruck Wort verwendet. Wort ist nicht statisch, sondern es geschieht beim Reden zwischen Mensch und Mensch. Wort ist eine Sache, die in Aktion ist. Das Wort verbindet Gott und Mensch seit der Schöpfung bis zur Menschwerdung des Sohnes. Dieses Wort ist im Herzen. Es ist verinnerlicht im Verstand (im biblischen Sprachgebrauch ist Herz der Sitz des Verstandes, nicht der Gefühle). Es ist begriffen, sodass man es selbst im Mund führen kann. Daraus entwickelt sich die Meinung von der Mündlichkeit der Tora. Die offene Diskussion durch alle Zeiten hindurch ist gleichwertig mit der am Sinai gegebenen Lehre selbst und garantiert die Nähe und Zugänglichkeit der Lehre in jeder Generation.

«Um es zu tun» ist die abschliessende Finalangabe des ganzen Textes. Darum geht es, nicht um eine Last, nicht um eine Theorie, sondern um das konkrete Tun eines jeden. Damit wird zum Schluss klar, es kann sich nicht um ein kompliziertes Regelwerk handeln, sondern um Grundwerte, die bei jedem Tun umgesetzt werden.

Mit der Kirche lesen

Das Evangelium berichtet von der mündlichen Tora in späterer Zeit. Schriftgelehrte diskutieren, wie zwei Bestimmungen (Lev 19,18 und Dtn 6,5) zu verstehen sind. Die Antwort Jesu nimmt die Gedanken des Lesungstextes auf. Sein Beispiel zeigt die Umsetzung der Lehre in eine konkrete Tat. Die Wirkungsgeschichte hat dann diese Tat der Fürsorge und Pflege als den Imperativ aus Jesu Gleichnis verstanden. Daraus resultiert dann dieselbe Gesetzesfrömmigkeit, wie sie dem Judentum vorgeworfen wird. Darum geht es Jesus aber nicht. Soziale Taten an Hilfsbedürftigen sind wichtig und gut, aus unserer Welt nicht wegzudenken, aber eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Der entscheidende Hinweis liegt am Ende in Verse 36–37. Auf die Frage: Wer ist der Nächste? Folgt die Antwort: Der barmherzig an ihm gehandelt hat – also der Samariter. Diesen Nächsten, so die in Vers 27 zitierte Lehre, sollst du lieben. Der Auftrag geht also an den Verletzten, seinen Retter zu lieben. Nicht komplizierte Regeln und Kataloge über notwendige soziale und diakone Tätigkeiten, sondern die schlichte und naheliegende Botschaft an das Herz, den zu lieben, der mir Gutes tut, ist der Grundwert, den Jesus vermittelt.

Diese Liebe im Herzen und auf dem Mund zu haben, wird erstaunlich viel verändern: Bedürftige, denen Hilfe nicht mehr peinlich ist, Helfer, die willkommen sind, ein Ende der Vergeltungsdankbarkeiten, sondern offenes Annehmen. Und wer sich diese Veränderung nicht ausmalen kann, der sei auf das Schlusswort der Lesung verwiesen:Tu es!

Deuternomium: Worte oder Gesetz
Das 5. Buch des Mose, das die Tora abschliesst, heisst in der jüdischen Tradition (wie es auch noch heute bei Papst-Enzykliken üblich ist) nach den Anfangsworten des Buches «Debarim» (=Worte). Seit der ersten griechischen Übersetzung trägt es – wie auch später im Lateinischen – den Namen «Deuteronomium» (= Zweites Gesetz). In diesen beiden Benennungen wird nicht nur die Schwierigkeit des Gesamtverständnisses dieses Buches sichtbar, sondern auch das grundlegende Missverständnis der antijüdischen Polemik.

Das hebräische Tora = Lehre (durch die Eltern) – und gemeint ist auch und vor allem das mündliche unterweisen mit Worten (Debarim) – wird im griechischen mit Nomos = Gesetz wiedergegeben, da die wörtliche Übertragung ungenügend war, dagegen Nomos feierlicher klang, sodass die Erhabenheit der göttlichen Lehre gegenüber der menschlichen ausgedrückt werden konnte. Allerdings war dem Missverständnis einer despotischen Auslegung das Einfallstor gegeben.

Dtn 12–26 nimmt das Bundsbuch (Ex 20,22–23,33) und die Vorschriften aus Lev 19–26 auf, Dtn 5 die Zehn Gebote aus Ex 20, daher der Name Zweites Gesetz, ein zusätzliches Rechtsbuch. Das ist die eine Sicht. Die andere: Mose ist ein Tora-Lehrer, der Prototyp eines jeden Schriftgelehrten, der mit seinen Worten (Debarim) die am Sinai durch Gott gegebenen Lehren und Vorschriften auslegt und kommentiert.