Wir beraten

Was ist Wahrheit? (Sakrileg Dekoder X)   

Dieter Bauer, forum 14/2007

Behauptung: Nicht nur das Neue Testament, sondern «jeder Glaube … in unserer Welt beruht … auf Erfindungen».

Und das meint der Decoder dazu: So wie Dan Brown das sagt, ist es zunächst einmal sehr provokativ. Und doch ist es nicht ganz falsch. Wenn «Wahrheit» einfach nur bedeuten sollte: historisch genau so geschehen bzw. wissenschaftlich beweisbar, dann haben «Erfindungen» natürlich keinen «Wahrheitsanspruch». Nur: Ist «Wahrheit» nicht viel mehr? Gibt es nicht in jedem Menschenleben «Wahrheiten», die gerade nicht wissenschaftlich beweisbar sind, ja, die auf einer ganz anderen Ebene «wahr» sind als der wissenschaftlich rationalen?

Glaube und Wissen
Im Glauben zum Beispiel geht es gerade nicht um ein rationales Wissen, das man «hat», sondern um Orientierung und Halt, um Grund, Ziel und Sinn des Lebens. Was Menschen in ihrem Leben erfahren, ordnen sie in ihrem Glauben sinnvoll ein. Dieser Bezugsrahmen des Glaubens ist eben gerade nicht «beweisbar». Er kann nur vorgelebt und anderen angeboten werden.
Darin liegt ja gerade das Hauptproblem im interreligiösen Gespräch: Weder das Christentum, noch andere Religionen wie der Islam, kann seine «Wahrheit» beweisen. Und leider nur allzu oft geht es im so genannten interreligiösen Gespräch um gegenseitige Annäherung unter teilweiser Aufgabe eigener Überzeugungen. Es werden Kompromisse gemacht und der kleinste gemeinsame Nenner gesucht. Das ist aber Unsinn. Es müsste vielmehr darum gehen, dem jeweils anderen Partner davon mitzuteilen, was das eigene Leben trägt und worin die eigenen Gewissheiten des Glaubens bestehen. Wenn Glaubende um die Begrenztheit der eigenen «Wahrheit» wissen (das ist natürlich Voraussetzung), dürfte das Gespräch kein grosses Problem sein, sondern dürfte höchstens den eigenen Horizont erweitern.

Nicht-Glaubende und die «Fakten»
Anders sieht es aus mit Menschen, die von vornherein solche Glaubensgewissheiten nicht gelten lassen, sondern die Wirklichkeit reduzieren auf die so genannten «beweisbaren Fakten». Sie gleichen einem Menschen, der von seiner Partnerin einen Beweis ihrer Liebe fordert. Sie wird ihn nie erbringen können. Nicht weil sie ihn nicht liebte, sondern weil dies letztlich nicht beweisbar ist. Jeder so genannte «Beweis» nämlich ist immer missverständlich und könnte erlogen sein. Im Übrigen: Ein wirklich Liebender würde solches nie fordern. Weil Liebende dies nicht brauchen.
Genau so ist es mit dem Glauben: Für wen die Existenz Gottes und sein Wirken in dieser Welt Glaubensgewissheit ist, der braucht keine Beweise. Aber er wird einen Nichtglaubenden, der diese Wirklichkeit von vornherein ablehnt, auch die Existenz Gottes nicht «beweisen» können.

Die Sprache des Glaubens
Die Sprache der Liebe hat wie die Sprache des Glaubens ihre eigenen Gesetze. Sie ist fast so etwas wie eine Insider-Sprache. Nur Liebende verstehen einander wirklich. Für aussen Stehende ist ihre Sprache oft missverständlich, seltsam, unsinnig oder einfach nur lächerlich. Aussagen wie «ich hol dir vom Himmel die Sterne» machen in einer rational aufgeklärten Welt keinen Sinn. Es sei denn, ich lasse solche Sprache gelten und öffne mich dafür. Liebende können «im siebten Himmel» sein, dem oder der anderen «die Welt zu Füssen legen» oder «das Herz zerreissen». Sie denken sich die unmöglichsten Dinge aus, um ihrer Liebe Ausdruck zu verleihen.
Auch Glaubende sind solche Liebende: sie können Berge versetzen, über’s Wasser gehen und sogar Tote auferwecken. Und sie erfinden die unmöglichsten Geschichten, um ihrem Glauben Ausdruck zu verleihen. Wer diese Geschichten als «Erfindung» abtut, als seien sie nicht «wahr», hat weder vom Glauben, noch von der Liebe etwas verstanden.