Wir beraten

Brot und Wein nach draussen tragen   

Peter Zürn zur Alttestamentlichen Lesung an Fronleichnam SKZ 21-22/2007

Alttestamentliche Lesung Gen 14,18–20
Evangelium: Lk 9,11b-17

Was gibt es für Fronleichnam im Alten Testament zu entdecken? Die Leseordnung verweist uns auf die Begegnung zwischen Abraham und Melchisedek.

Mit Israel lesen

Für die Rabbinerin Elisa Klapheck ist Gen 14,18–20 ein Schlüsseltext. Er erschliesst den Weg, der die 1962 geborene Jüdin, die ohne tiefe Verbindung zur Religion aufwuchs, Politikwissenschaften studierte und bei der linken Berliner Tageszeitung Taz als Journalistin arbeitete, schliesslich zur intensiven Auseinandersetzung mit ihren jüdischen Wurzeln und zum Rabbinat führte. Sie formuliert mit Blick auf Gen 14 und auf ihre eigene Erfahrung: «Es ist in dieser Geschichte nicht Gott, sondern der Priester Malkizedek, der Abraham segnet. Wie kann sich Abraham sicher sein, dass Gott ihn erwählt hat und die Dinge geschehen lassen wird, die Gott ihm versprochen hat? Es gibt Momente, da hängt alles davon ab, dass ein anderer Mensch einem sagt, wer man ist.»1 Sie ringt – wie Abraham – mit der Frage: «In welche Richtung soll ich mein Leben wenden?» Und immer wieder findet sie in der Begegnung mit Menschen eine klärende und richtungsweisende Antwort. Verdichtet ereignet sich das bei der Ordination eines Freundes zum Rabbiner. Bei einer Zeremonie zum Ende der Ausbildung gibt es vier Stuhlkreise. Innen sitzen die Studenten, die kurz vor der Ordination stehen, im zweiten Kreis die anderen Studierenden, dann die, die sich um die Aufnahme in die Ausbildung bemühen und schliesslich die Aussenstehenden. Elisa Klapheck setzt sich in den vierten, den äusseren Stuhlkreis. Eine Rabbinerin kommt auf sie zu und zieht sie in den nächstinneren, dritten Kreis (182f.). Sie handelt wie Melchisedek, der auf Abraham zugeht und ihm mit dem Segen klar macht, wer er ist. Die Zeremonie ist ein öffentliches Geschehen, und auch von Melchisedek heisst es, dass er Brot und Wein nach draussen, in den öffentlichen Raum, bringt.

Für Elisa Klapheck erzählt Gen 14,18– 20 von einer Offenbarung. Eine Lebenswahrheit wird offenbar für einen selbst und für andere, es wird möglich, sich damit auseinanderzusetzen. «Es liegt an uns, ob wir uns für unsere Offenbarungen öffnen und sie ernst nehmen. Eine Offenbarung fordert immer den Mut des Menschen zu seiner. . . Wahrheit. Weil jedoch niemand diese ganz kennen kann, und weil sie sich zunächst kaum ins Geflecht der Zwänge und Konventionen einfügt, ist sie so erschreckend und schlägt fast jeden erst einmal in die (Aus-)Flucht . . . Es fordert den radikalen Mut zu sich selbst und gegen die eigenen Lebenslügen» (63). Das ruft Widerstände und Feinde auf den Plan, innere und äussere. Deswegen gehört zum Segen des Melchisedek auch die Zusage an Abraham, dass Gott «deine Feinde an dich ausliefert» (Gen 14,20). Die Bibel geht Widerstände und Feinde mitunter sehr direkt und aggressiv an. Damit haben wir oftmals unsere Schwierigkeiten. Aber: «Manchmal im Leben [darf] man keine Rücksicht auf die anderen nehmen. Manchmal muss man einfach gehen . . . Es gibt immer Menschen, die sich in den Weg stellen. Auf sie darf man in so einem Moment nicht hören. Wenn sie einen hindern, ist es sogar geboten, sie aus dem Sichtfeld zu vertreiben» (156).

Für Abraham und für Elisa Klapheck klärt sich die Sicht auf den eigenen Weg. Sie werden bestärkt, ihm zu folgen. Genauso klärt sich die Frage, mit wem sie sich dabei verbinden wollen und mit wem nicht. Abraham verbindet sich mit Melchisedek und grenzt sich klar vom König von Sodom ab. Er scheut zwar, um seinen Neffen Lot zu retten, der von den Truppen der siegreichen Könige gefangen genommen wurde, den Kampf nicht – zu einer Figur auf dem Schachbrett der herrschenden Mächte will er aber nicht werden. Klar und mutig sagt er das dem König in Gen 14,23 ins Gesicht. Dem Priester Melchisedek jedoch gibt er «den Zehnten von allem» (14,20). Ihre Beziehung hat offenbar eine andere Qualität. Sie ist geprägt von wechselseitigem Geben und Nehmen, das nicht das Ziel hat, den anderen der eigenen Macht zu unterwerfen. Sie ist eine nährende Beziehung, die beide mit dem Lebensnotwendigen versorgt und sie zu ihrer eigenen Wahrheit wachsen lässt. Diese nährende Beziehung wirkt weiter, aus dem Gast Abraham in Gen 14 wird der grosszügige Gastgeber in Gen 18. Der «Fluss von Nähren und Genährtwerden»2 ist die eigentliche Grundform des guten Lebens. In ihrer Beziehung machen sich Melchisedek und Abraham abhängig voneinander. Sie verzichten darauf, unabhängig von allen anderen zu sein und sich gegen alle durchsetzen zu können. Sie verzichten auf ihre Souveränität, auf ihr Herr-Sein. Sie werden dadurch aber nicht unfrei, im Gegenteil. Sie verkörpern das Zusammenleben von Menschen als «Freiheit in Bezogenheit» (Hannah Arendt), wie es uns Menschen von Geburt, nein von Mutterleib an, wesentlich ausmacht. Elisa Klaphecks autobiografisches Buch ist eine einzige grosse Erzählung von den Beziehungen, die ihren Weg ermöglicht, geprägt und geleitet haben, von den Freundinnen zum Beispiel, mit denen sie als Zwanzigjährige begann, im Tanach, der Hebräischen Bibel, zu lesen, oder von Erfahrungen in den sogenannten «egalitären Minjanim», den gleichberechtigten Gottesdienstgemeinschaften in der Berliner Jüdischen Gemeinde, aber auch von der Verbindung zu ihren Vorfahrinnen und Vorfahren, der lebendigen jüdischen Tradition in Europa vor 1933, an die sie anknüpft.

Ihr Weg zur Rabbinerin ist eng verknüpft mit den Herausforderungen für das gegenwärtige jüdische Leben in Europa und besonders in Deutschland, mehr als 60 Jahre nach der Schoah. Die Rabbinerin benennt die Herausforderung für ihre Generation, sich nicht mehr in erster Linie als die «zweite Generation» der Opfer des Nationalsozialismus zu verstehen, sondern als «erste Generation danach . . ., die wieder etwas Positives nach der Katastrophe aufbaut» (173). Ihr Ziel ist die Erneuerung des jüdischen Lebens. Sie engagiert sich für ein «Judentum voller Spiritualität, dessen Praxis dem Leben Bedeutung gibt, ja sogar ein Lebensvergnügen sein kann und die unmittelbare Welt um sich herum zum Besseren beeinflusst» (184). Erneuerung geschieht aus der Verbindung mit der Tradition, aus der sie stammt und deren Verlebendigung in der Gegenwart. Sie gründet so letztlich in der Verbindung zu Gott; Sie will Raum öffnen, um die Gegenwart Gottes, die Schechina, zu erfahren. Der Segen des Melchisedek eröffnet diesen Raum für Abraham.

Mit der Kirche lesen

Fronleichnam – Zeit und Raum

– um das nach draussen, in die Öffentlichkeit zu tragen, was uns nährt;

– um gastfreundlich zu teilen und mitzuteilen, was wir als Wahrheit unseres Lebens erkennen und womit wir ringen, mit all unserem Mut gegen all unsere Angst;

– um Auseinandersetzung möglich zu machen, die klären, wovon wir uns abgrenzen und womit wir uns verbinden wollen;

– für die Erfahrung der Gegenwart Gottes in gesegnetem Brot und in gesegneten Menschen;

– für die Erfahrung der Wandelbarkeit von Brot und Menschen und der ganzen Welt.

1 Elisa Klapheck: So bin ich Rabbinerin geworden. Jüdische Herausforderungen hier und jetzt. Freiburg im Breisgau 2005, 33. Die nachfolgend in Klammern angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf dieses Buch.
2 Ina Prätorius: Handeln aus der Fülle. Postpatriarchale Ethik in biblischer Tradition. Gütersloh 2005, 93ff. (Buch des Monats Dezember 2005 vgl. www. bibelwerk.ch).