Wir beraten

Die Umkehr der «Opferer»   

Dieter Bauer zur Lesung am Karfreitag (06.04.2007) SKZ 12/2007

Alttestamentliche Lesung: Jesaja 52,13–53,12
Evangelium: Joh 18,1–19,42

An Karfreitag gedenken wir Jahr für Jahr eines Menschenopfers. Da musste ein Mensch, eben Jesus von Nazaret, sterben für einen «höheren Zweck». Dieser «höhere Zweck», der seit jeher die Mittel heiligt, wird vom Hohenpriester Kajaphas in die Worte gekleidet: «Ihr bedenkt nicht, dass es besser für euch ist, wenn ein einziger Mensch für das Volk stirbt, als wenn das ganze Volk zugrunde geht.» (Joh 11,50; vgl.18,14)

An Karfreitag gedenken wir eines unendlichen Leidens. Und ich meine hier nicht einmal speziell das Leiden Jesu. Zu seiner Zeit starben Hunderte auf solche – und vielleicht noch grausamere – Art und Weise am Kreuz als Opfer der Verhältnisse. Ich meine damit die unendliche Reihe der Opfer bis heute, unter denen Jesus eines der bekanntesten ist. Diese Reihe der Opfer reicht Jahrtausende zurück in der menschlichen Erinnerung und setzt sich fort bis heute – trotz jüdischer und christlicher Bemühungen um Frieden und Gewaltlosigkeit in dieser Welt.

Mit Israel lesen

Einem solchen Opfer der Geschichte begegnen wir bereits in den «Gottesknechtsliedern» des Buches Jesaja. In einer Folge von vier Liedern, die sich im zweiten Teil des Jesajabuches (Deuterojesaja) finden, ist die Rede von einem Menschen, der ganz auf der Seite Gottes steht und dafür zutiefst erniedrigt wird – bis hin zum Tod.

Bemerkenswert speziell am 4. «Gottesknechtslied», das an jedem Karfreitag in unseren Kirchen gelesen wird, ist die Tatsache, dass da eine Gruppe von Sprecherinnen und Sprechern zu Wort kommt, die sich zum Schicksal dieses «Gottesknechtes» äussert und dieses reflektiert:

Wer hat unserer Kunde geglaubt? /

Der Arm des Herrn – wem wurde er offenbar? Vor seinen Augen wuchs er auf wie ein junger Spross, /

wie ein Wurzeltrieb aus trockenem Boden. Er hatte keine schöne und edle Gestalt, / sodass wir ihn anschauen mochten. Er sah nicht so aus, /

dass wir Gefallen fanden an ihm. Er wurde verachtet und von den Menschen gemieden, /

ein Mann voller Schmerzen, /

mit Krankheit vertraut. Wie einer, vor dem man das Gesicht verhüllt, /

war er verachtet; wir schätzten ihn nicht. Aber er hat unsere Krankheit getragen /

und unsere Schmerzen auf sich geladen. Wir meinten, er sei von Gott geschlagen, /

von ihm getroffen und gebeugt. Doch er wurde durchbohrt wegen unserer Verbrechen, /

wegen unserer Sünden zermalmt. Zu unserem Heil lag die Strafe auf ihm, /

durch seine Wunden sind wir geheilt. Wir hatten uns alle verirrt wie Schafe, /

jeder ging für sich seinen Weg. Doch der Herr lud auf ihn /

die Schuld von uns allen.

(Jes 53,1–6)

Das Leiden und Sterben des «Gottesknechts» hat offensichtlich einige zum Nachdenken gebracht. Sie legen so etwas wie ein Schuldbekenntnis ab: Sie hatten gedacht, dass sein Leiden ein selbstverschuldetes sei. Nun aber – wenn auch zu spät – erkennen sie, dass sein Leiden etwas mit ihrer eigenen Schuld zu tun hatte. In ihrem Erschrecken darüber wenden sie sich an die Hörerinnen und Hörer dieses Liedes.

Das wirklich Erschreckende an dieser Erfahrung ist ihre Allgemeingültigkeit! Seit jeher haben Menschen ihre eigenen Konflikte in «Andere» oder die «Fremden» projiziert. Dieser Mechanismus ist inzwischen viele Male beschrieben als der vom Suchen und Finden des «Sündenbocks». Nicht zufällig gebraucht auch unser Text vom «Gottesknecht» Bilder aus diesem Bereich: «das Lamm, das man zum Schlachten führt» oder das «Schaf angesichts seiner Scherer» (53,7). Ungemein hellsichtig erkennen die Sprechenden, dass sie ja selbst «wie Schafe» sind, die sich verirrt haben. Umso schlimmer, wenn es keine Solidarität gibt: «Jeder ging für sich seinen Weg» (53,6).

Geht man davon aus, dass mit dem «Gottesknecht» der uns namentlich nicht bekannte Exilsprophet selbst gemeint ist, dann erfahren wir im 4. «Gottesknechtslied», wie er fertig gemacht wurde. Seine Botschaft – eine Botschaft von Trost und Neubeginn für die Verbannten (Jes 40,1ff.) – wird nicht gehört. Ja, er wird denunziert, landet im Gefängnis und wird schliesslich umgebracht. Offensichtlich ist ihm niemand wirklich beigestanden. Seine Botschaft war politisch inopportun, ja lebensgefährlich.Wer will sich darauf schon einlassen, auf einen Fremden in fremdem Land? «Selber dran schuld», scheinen viele gesagt zu haben. Wer lehnt sich schon gegen die (babylonische) Staatsmacht auf? Und wer will sich schon in solche Umtriebe mit hineinziehen lassen?

Doch auch wenn man die heute gängige jüdische Deutung des «Gottesknechts» auf das Volk Israel akzeptiert, wird es nicht besser. Wer, wenn nicht das Volk der Juden, wurde weltweit immer wieder dann zum «Sündenbock» gemacht, wenn die eigenen Konflikte nicht anders lösbar schienen? Jesus, der Jude, ist da nur ein kleines Mosaiksteinchen in einer grausamen Geschichte. In der Bibel wird dieser Mechanismus vom Sündenbock aufgedeckt. Die Bibel steht nicht (mehr) auf Seiten derer, die andere «opfern», um selbst besser dazustehen. Sie solidarisiert sich mit den Opfern: mit dem leidenden «Gottesknecht», mit dem leidenden Ijob, mit dem leidenden Jesus von Nazaret. Diejenigen, die vorher noch mitgemacht oder einfach tatenlos zugeschaut haben wie andere Menschen fertiggemacht wurden und dies vielleicht auch noch gerechtfertigt haben, kehren um. Die Verfolgerinnen und Verfolger des «Gottesknechts» ebenso wie diejenigen die Jesus verfolgt haben: «Wahrhaftig, dieser Mensch war Gottes Sohn», sagt «der (römische) Hauptmann, der Jesus gegenüberstand», nachdem er «ihn auf diese Weise sterben sah» (Mk 15,39).

Mit der Kirche lesen

Traurig ist, dass diese biblische Aufdeckung des Sündenbockmechanismus, die eigentlich dazu führen müsste, nicht immer wieder neu in dieselbe Falle zu tappen, sehr bald schon korrumpiert wurde. Die Solidarität mit den Opfern wurde gleichgesetzt mit der Ausgrenzung der «Opferer».Wer dieses Etikett erst einmal trug, hatte keine Chance. So wurde «den Juden» die Tötung Jesu zur Last gelegt, sie wurden als «Gottesmörder» ausgegrenzt und grausam verfolgt. Gerade die Karfreitagsliturgie löste oftmals Judenpogrome aus. Und dabei ist der christliche Antisemitismus doch eine eindeutige Perversion der biblischen Perspektive: Solidarität mit den Opfern.

Auch da ist – angesichts des unendlichen Leids, das dem Volk Jesu schon zugefügt wurde – Umkehr gefragt. Der klassische Ort des Christen für diese Umkehr ist die Feier der Eucharistie, allerdings nicht als Wiederholung eines archaischen «Opfers» verstanden, sondern als Teilhabe an der Hingabe Jesu zu Gunsten all der Opfer der Geschichte, für die sonst niemand da ist. Davon nämlich spricht der an Karfreitag ebenfalls gelesene Hebräerbrief, wenn er alle weiteren Opferhandlungen «ein für alle mal» für beendet erklärt, weil Jesus uns einen anderen Weg gezeigt hat: seine Hingabe für die Opfer «durch sein Leben» (Hebr 9,12).1 Daraus Konsequenzen zu ziehen – das wäre erlösend!

1 So nämlich ist der schwierige Vers im Hebräerbrief zu übersetzen: «Durch das eigene Blut (= Leben bis zum Tod) ist er ein für allemal hineingegangen in das Allerheiligste (= zum Vater) und hat dadurch vollkommene Erlösung erlangt.»