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Wie im Anfang, so auch jetzt. . .   

Peter Zürn zur Lesung am Hohen Donnerstag (05.04.2007) SKZ12/2007

Alttestamentliche Lesung: Ex 12,1–8.11–14
Evangelium: Joh 13,1–15

Rituale sind gestaltete Zeiten, Handlungen und Räume. In Ritualen nehmen sich Menschen die Freiheit, ihre Lebenshoffnungen für sich selbst und für die Welt zu sagen, sie zu spielen, zu essen, zu berühren . . . In Wandlungsritualen treten Menschen aus bestehenden Grenzen heraus und erfahren, dass es auch anders sein kann, dass sie anders leben können und dass sie damit die Zukunft bereits gestalten. Auf diesem Hintergrund haben Regula Grünenfelder und Bernd Lenfers- Grünenfelder Wandlungsrituale zum Johannesevangelium entwickelt.1 Ich möchte hier das Pessach, wie es in Ex 12 beschrieben ist, als Wandlungsritual deuten2 .

Mit Israel lesen
Das hebräische Wort pessach aus Ex 12,11 – dessen ursprüngliche Bedeutung unklar ist – wird in 12,27 in einem Wortspiel mit passach – hüpfen, (über)springen – in Beziehung gebracht. Die englische Übersetzung Passover (to pass over) entspricht dem genau. Es kann sich dabei aber auch um einen Fachbegriff aus dem Bereich kultischer Tänze handeln (vgl.1 Kön 18,26). Das rituelle Essen, das Ex 12,1–14 beschreibt und für spätere Generationen vorschreibt, ist das Ritual einer Überschreitung (ein «Überschreitungsopfer» wie es in einer jüdischen Übersetzung heisst). Es ist ein Übergangs- oder eben ein Wandlungsritual.

Rituale sind Unterbrechungen. Sie unterbrechen den Lauf der Dinge, den gleichförmigen Alltag genauso wie plötzliche Ereignisse, die uns aus der Bahn zu werfen drohen. Die Anweisungen zum Pessach unterbrechen die zehnte Plage. Die Blickrichtung der Erzählung wechselt, die Aufmerksamkeit gilt jetzt nicht mehr dem Pharao und der Frage, ob er endlich zur Einsicht kommt und das Volk ziehen lässt, sondern sie gilt jetzt den Menschen des Volkes Israel, jeder und jedem Einzelnen in jedem Haus (12,3). Es ist nicht mehr die Frage, ob die äusseren Umstände eine Veränderung möglich machen, sondern ob die Menschen bereit sind für das, was ansteht. Der Bibeltext und das Pessachritual zeugen von grosser Achtsamkeit für das alltägliche Leben und für die Bedürfnisse der Einzelnen. Die genaue Beschäftigung mit jeder Person, die am Essen beteiligt ist, ist eine Besonderheit des Pessach (12,4), so etwas gibt es bei keinem anderen biblischen Opfer. Niemand ist unwichtig und alles hat einen Wert, nichts wird vergeudet (12,10). Von grosser Bedeutung sind die Beziehungen im nachbarschaftlichen Umfeld (12,4). Die Tosefta sieht hier das weisheitliche Wort von Spr 27,10 erfüllt: «Besser ein Nachbar in der Nähe als ein Bruder in der Ferne» (p’sachim VIII,13). Im Alltag, mit den Menschen, zu denen tägliche Beziehungen bestehen, geht es um die Frage, was wirklich wichtig für das Leben ist, und darum, was in diesen Beziehungen Gestalt annehmen soll, was trägt und verbindet beim Aufbruch in die Freiheit. Hier tut sich der Raum der Wandlung auf, hier ist auch alles vorhanden, was dafür notwendig ist.

Text und Ritual zeugen aber auch vom Wissen darum, dass es notwendig ist, Bekanntes und Vertrautes zurückzulassen, um dem Neuen, der Wandlung, Raum zu geben. Die Vorbereitungen für den Aufbruch sind getroffen (12,11).

Wandlungsrituale folgen einem Dreischritt, der mit den Phasen einer Reise verglichen werden kann: (1) Abreisen, (2) am tiefsten, gefährlichsten Punkt ankommen und durchgehen und (3) wieder zurückkehren und die neuen Erfahrungen in den Alltag integrieren. In Ex 12 ist dieser Dreischritt enthalten: (1) Die Anweisungen zum Pessach sind gleichsam der erste Schritt des Exodus, des Aufbruchs aus der Unterdrückung und der Reise in die Freiheit. Dieser räumlichen Vorstellung entspricht eine zeitliche: Mit dem Pessach beginnt eine neue Zeitrechnung (12,2), die Ära der Fremdherrschaft ist vorbei, jetzt ist die Stunde null für die Zählung der künftigen Jahre. (2) Die Anweisungen zum Pessach stehen mitten in der Schilderung der Plagen. Die Befreiung geschieht als Folge von aufgestauten Schrecken und führt durch die Gefährdung hindurch.12,23 macht deutlich, dass es der «Verderber» ist, der personifizierte Tod, der später Todesengel genannt wird, der durch Ägypten geht. Rabbi Salomo ben Isaak (Raschi) lehrt zu Vers 22, wonach niemand in dieser Nacht das Haus verlassen durfte: «Wenn dem Zerstörer die Erlaubnis gegeben ist, zu verderben, unterscheidet er nicht mehr zwischen dem Gerechten und dem Bösen». (3) Vers 14 schliesslich richtet den Blick in die Zukunft, auf das spätere Gedenken an die grundlegende Erfahrung, darauf, wie die Erinnerung an den aussergewöhnlichen Anfang auch im zukünftigen Alltag bewahrt werden kann. Aus dem pesach Mizrajim, dem Pessach in Ägypten (nach 12,1, wo die Rede Gottes explizit «im Land Ägypten» verortet wird), wird das pesach dorot, das Pessach der Generationen. Das einstige Geschehen soll in Erinnerung bleiben und jedes Jahr aktualisiert, d. h. vergegenwärtigt werden. Das Pessach der Generationen ist kein «Fest der frommen Erinnerung, sondern der immer wiederkehrenden Vergegenwärtigung des ureinst Geschehenen. Jedes feiernde Geschlecht wird eins mit dem Urgeschlecht und mit allen» (Martin Buber). Jüdinnen und Juden erinnern bis heute an Pessach an den Exodus. Die Haggada fordert dafür zur Identifikation auf. «In jeder Generation sehe es der Mensch so an, als sei er selbst aus Ägypten gezogen. Nicht nur unsere Vorfahren hat der Heilige, gelobt sei er, erlöst. Auch uns erlöste Er mit ihnen» (Mischna p’sachim X 5). Diese Erlösung erreicht die Menschen, die sich in ihrer Gegenwart dafür öffnen und sich mit dem Geschehen identifizieren.

Mit der Kirche lesen

Die Leseordnung am Hohen Donnerstag setzt Ex 12 in Beziehung zur Fusswaschung in Joh 13. Handelt es sich dabei auch um ein Wandlungsritual? Joh 13 spielt «vor dem Paschafest» (13,1) und spricht vom bevorstehenden Übergang Jesu «zum Vater». In dieser Situation erweist Jesus «den Seinen» «seine Liebe bis zur Vollendung». Ausdruck dafür ist, dass er ihnen die Füsse wäscht. Ziel ist es, dadurch Anteil an Jesus zu gewinnen. Dazu ist es notwendig, sich waschen zu lassen – das zeigt die Weigerung des Petrus (13,8). Da die Fusswaschung der Erweis von Liebe ist, ist es also notwendig sich lieben zu lassen, um Anteil an Jesus zu gewinnen. Das ist das Entscheidende und zugleich überaus Schwierige – wie wiederum Petrus zeigt: die Fähigkeit sich lieben lassen zu können. Die Fähigkeit, sich selbst als Mensch zu erkennen, der angewiesen ist auf Zuwendung und bedürftig danach geliebt zu werden. Wer sich dafür öffnet, erhält Anteil an Jesus und nimmt Anteil an allen Menschen, denn alle Menschen sind auf Liebe angewiesen. Wir leben nur, weil wir die Zuwendung anderer erfahren haben. Das Weitere (13,12–15) ist dann leicht zu begreifen. Die Erinnerung daran, dass wir lebensnotwendig angewiesen sind auf die liebevolle Zuwendung anderer, verlieren wir leider immer wieder. Das Ritual der Fusswaschung vergegenwärtigt uns unsere Anfänge, es verwandelt uns in die Menschen, die wir von Geburt an sind.

1 Erde und Licht. Mit dem Johannesevangelium auf den Spuren unserer Lebenswünsche. Werkstatt- Bibel 7. (Verlag Katholisches Bibelwerk) Stuttgart 2004.
2 Zum Pessach vgl. SKZ 175 (2007), Nr. 10, 155.