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Der «Sakrileg-Decoder» (VII) – Qumran und Nag Hammadi   

Dieter Bauer, forum 4/2007

Behauptung: Die Schriftrollen vom Toten Meer und die koptischen Schriftrollen von Nag Hammadi erzählen «die wahre Gralsgeschichte» und «sprechen in einer sehr menschlichen Weise vom Wirken Jesu».

Und das meint der Decoder dazu: Bei den Schriftrollen vom Toten Meer und den koptischen Schriftrollen von Nag Hammadi, die beide fast zeitgleich nach dem 2. Weltkrieg entdeckt wurden, handelt es sich tatsächlich um ganz bedeutende Schriftfunde für die biblische Forschung.
Die Schriftrollen vom Toten Meer wurden in unmittelbarer Nähe von Qumran, einer Ruinenstätte im Westjordanland am Toten Meer, im Jahre 1947 von Beduinen entdeckt. Sie wurden in elf Höhlen gefunden. Wahrscheinlich wurden sie im Zuge des jüdischen Krieges gegen die Römer dort versteckt. Die Handschriften stammen aus der Zeit zwischen dem 3. Jahrhundert v. Chr. und dem Jahr 68 n. Chr., als die nach Jerusalem ziehenden Römer Qumran zerstörten. Unter den Schriftrollen finden sich keinerlei JesusÜberlieferungen – auch wenn darüber immer wieder spekuliert wird. Wichtig sind die Qumran-Rollen für die Forschung vor allem aus zwei Gründen:
Erstens fanden sich in Qumran alttestamentliche Texte, die viele Jahrhunderte älter waren, als die bis dahin bekannten mittelalterlichen Handschriften. Man konnte die «Urtexte» also jetzt wesentlich besser rekonstruieren.
Zweitens waren unter den Qumran-Schriften auch Dokumente, die der Sekte der Essener zugerechnet werden konnten, die vermutlich in Qumran eines ihrer Zentren hatten. Durch diese Schriften sind wir über diese Gruppierung, die zeitgleich mit Johannes dem Täufer und Jesus wirkte, viel besser informiert und können auch die religiöse Umwelt und das Besondere der Botschaft Jesu besser verstehen.
Die Schriftrollen von Nag Hammadi sind eine Sammlung von frühchristlichen Texten. Sie wurde im Dezember 1945 in der Nähe des kleinen mittelägyptischen Ortes Nag Hammadi von dort ansässigen Bauern gefunden. Die meisten dieser Schriften entstammen dem Umfeld der frühchristlichen Gnosis, einer mit der Grosskirche konkurrierenden esoterischen Bewegung. Dazu gehören insbesondere mehrere Evangelien, die keinen Eingang ins Neue Testament fanden, weil sie als häretisch galten. Diese Evangelien sind durchweg viel später als die bekannten aus dem Neuen Testament entstanden und enthalten angebliche geheime Offenbarungen an einzelne Jüngerinnen und Jünger. In Konkurrenz zu den Evangelien des Neuen Testaments sollten sie den gnostischen Sekten als Schrift-Fundament dienen, so wie die Evangelien des Philippus oder des Thomas. Gerade das Evangelium des Philippus hat – auch durch Dan Brown – vor allem deshalb etwas zweifelhafte Berühmtheit erlangt, weil darin berichtet wird, dass Jesus die «Gefährtin» Maria von Magdala «oft auf ihren Mund geküsst» habe. Wenn man allerdings weiss, dass der «heilige Kuss» im frühen Christentum dazugehörte (vgl. Römer 16,16) und die gnostischen Evangelien keine gerade hohe Meinung von den Frauen hatten, wird man dies nicht überbewerten. Informationen über den historischen Jesus enthalten diese Evangelien jedenfalls keine. Eher ist das Gegenteil der Fall: Ihre Sicht des «Erlösers» Jesus Christus ist die eines gottgleichen Wesens, dem eher alles Menschliche fremd und erlösungsbedürftig ist.
Mit der mittelalterlichen «Gralsgeschichte» haben Qumran und Nag Hammadi in jedem Fall gar nichts zu tun.

DIETER BAUER