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Aggressivität als Lebenskunst   

Peter Zürn zur Lesung am 7. Sonntag im Jahreskreis SKZ 6/2007

Alttestamentliche Lesung: 1 Sam 26,2.7–9.12–13.22–33 / Evangelium: Lk 6,27–38

Im alltäglichen Sprachgebrauch wird kaum zwischen Aggressivität und Gewalt unterschieden. Dabei lohnt sich das: Wer aggressiv sein kann, kann sich für die eigenen Interessen stark machen und – das gehört wesentlich dazu – die eigenen Grenzen schützen. Aggressivität (vom Lateinischen aggredior, etwas unternehmen, nahe herangehen) ermöglicht Begegnung und Auseinandersetzung, und zwar an der Grenze. Da kann es heiss und heftig zugehen, aber die Grenze bleibt gewahrt. Das ist der Unterschied zur Gewalt. Ein Gewalttäter überschreitet die Grenzen anderer massiv. Es ist kein Zufall, dass die meisten Gewalttäter – vor allem in Fällen häuslicher Gewalt – eher zurückhaltende und aggressionsgehemmte Typen sind.Wer die Fähigkeit zur aggressiven Auseinandersetzung an der Grenze entwickelt, übt sich in Gewaltprävention. Davon lese ich in der Geschichte von David – sogar im zerstückelten und «aggressionsgehemmten» Lesungstext.

Mit Israel lesen

1 Sam 26 ist Teil der Geschichte, die erzählt, wie David an Sauls Stelle zum König aufsteigt (Kap.16–31). Zwischen Saul und David geht es um Konkurrenz und Macht. Aber auch um die Frage, wer zum Königsamt berufen ist. Die Abenteuer Davids waren beliebte Erzählungen und kursierten in verschiedenen Versionen. Unsere Geschichte hat eine Parallele in Kap. 24: Saul verfolgt David mit seinen Kriegern, um ihn zu töten. David flieht, bekommt durch Geschick und Glück die Möglichkeit, Saul zu töten, verschont aber sein Leben. Kap. 26 erzählt, wie David und Abischai sich nachts in Sauls Lager schleichen, wo dieser inmitten seiner Krieger schläft. Abischai will Saul erstechen, aber David verhindert das. Er nimmt Sauls Speer und seinen Wasserkrug mit, ohne dass jemand etwas davon bemerkt.Von einem Berg auf der anderen Talseite ruft David zu Sauls Lager hinüber, spricht aber nicht Saul an, sondern Abner, Sauls Heerführer. Der wird leider vom Lesungstext weitgehend unterschlagen. David verspottet Abner, der seinen Auftrag – Saul zu schützen – nicht erfüllt hat (26,14–16). Saul schaltet sich – nachdem er Davids Stimme erkannt hat – in das Rededuell ein (26,17–21). David dominiert die Auseinandersetzung. Er zündet ein wahres Feuerwerk rhetorischer Stilmittel, stellt Fragen, die sich kaum beantworten lassen, bringt seine Gegner gegeneinander auf und verharmlost sich mit viel Ironie als «Floh» und «Rebhuhn» derart, dass die Aktionen Sauls ins Lächerliche gezogen werden. Und dann zeigt David den Speer des Königs, den Speer, mit dem Saul mehrmals sein Leben bedroht hat (1 Sam 18,11; 19,10) – und gibt ihn zurück. Der Speer bezeichnet die Grenze, die David gewahrt hat, die Achtung vor Sauls Leben, vor dem Wert jedes Lebens. Die Mischna, im Traktat Sanhedrin 4.5, lehrt, «dass jeder, der ein Leben zerstört, betrachet wird, als hätte er eine ganze Welt zerstört, und jeder, der ein Leben rettet, als hätte er eine ganze Welt gerettet». Durch die Rückgabe des Speers gelangt das Zeichen dieser Grenze in Sauls Lager und erinnert an sie. «Wie dein Leben heute in meinen Augen wertvoll war, so wird auch mein Leben in den Augen des Herrn wertvoll sein» (26,24). Saul soll diese Grenze ebenfalls achten, er soll das Leben – wie Gott – als wertvoll erachten.

Die Aufstiegsgeschichte Davids ist kein neutraler Bericht, sie verfolgt ein klares Ziel. Sie reagiert auf Vorwürfe, er habe die Königsherrschaft unberechtigterweise und gewaltsam an sich gerissen, und will ihren Helden von jeder Schuld reinwaschen. David wird als der ideale König gezeichnet, von Gott und vom Volk gleichermassen geliebt und getragen. Aber die biblische Davidsgeschichte ist keine rein ideologische und bruchlose Heldenverehrung. Die Bibel spart nicht mit massiver Kritik an David – besonders verkörpert durch den Propheten Natan (u.a. in 2 Sam 12). Die Nachträge zu den Samuelbüchern (2 Sam 21) bewahren die Erinnerung, dass David mit dem Haus Sauls schonungslos umging. Aber trotz aller Kritik und Schattenseiten ist er für die Bibel derjenige, den Gott erwählt und an Sauls Stelle zum König salben liess (bereits in 1 Sam 16). David nimmt die Berufung und die Auseinandersetzungen, die damit verbunden sind, an. Er setzt sich aktiv dafür ein, durchaus auch aggressiv im anfangs beschriebenen Sinn: Er geht in Beziehung, ganz nah heran. Er zeigt sich – weithin sichtbar auf dem Gipfel des Berges. Er sucht die Auseinandersetzung an der Grenze: Er sorgt für seine Grenze, lässt genügend Zwischenraum zum Gegner. Und er achtet dessen Grenze, seine physische Unversehrtheit, sein Leben. David sieht ausserdem klar, dass es hier nicht nur um zwei Personen geht. Andere sind involviert. Selbst der König ist eingebunden in ein Geflecht von Mächten. David hat einen scharfen Blick für Mächtige, hier für Abner, den militärischen Arm Sauls. Die weitere Geschichte wird zeigen, dass David mit Abner und den Abners dieser Welt noch lange nicht fertig ist. Und auch David ist nicht allein. Er hätte zulassen können, dass Abischai Saul tötet. Er hätte sich selbst dann als unschuldig ausgeben können. Aber er nimmt seine Verantwortung Abischai gegenüber wahr. Schliesslich weiss David um die Bedeutung von Zeichen und Zeichenhandlungen. Der Speer Sauls hat viel von seiner Durchschlagskraft verloren. Er wird in Zukunft immer auch Zeichen für die Bewahrung des Lebens sein. David ist sich selbst bewusst als einer, der ermächtigt ist, der eigenen Berufung zu folgen. Er ringt darum, wie er das verantwortlich und im Horizont seines Gottesglaubens gestalten kann, als «Gesalbter des Herrn». «So viel Menschliches, Humorvolles, trotz Ehre Gescheitertes und trotz Widerständen Gelungenes erfahren wir sonst von keinem einzigen König des Altertums.»1

Mit der Kirche lesen

In jedem Leben geht es um Konkurrenz und Macht, in Beziehungen, im Beruf, in der Gesellschaft, in der Kirche. Niemand kann sich dem entziehen. Die Leseordnung stellt der Geschichte Davids einige Verse aus der Bergpredigt zur Seite. Lesen wir diese Sätze doch einmal als an Menschen gerichtet, die Macht haben: Menschen, die etwas besitzen, denn sie können leihen und man kann ihnen etwas wegnehmen; Menschen, die die Macht haben, zu richten und zu verurteilen, zu messen und zuzuteilen; Menschen, die in Konkurrenz und Auseinandersetzung stehen, die Feinde haben. Eindeutig ist, dass die Weisungen der Bergpredigt Gewaltkreisläufe durchbrechen, also Gewalt verhindern wollen. Keineswegs wollen sie aber verhindern, dass Menschen sich für das einsetzen, wozu sie berufen und ermächtigt sind, auch wenn die Davidsgeschichte der Aggressivität gegenüber wohl weitaus aufgeschlossener ist. Gemeinsam ist ihnen die Einsicht, dass es in unserem Handeln immer ein Gegenüber gibt, das von gleicher Art und gleichem Wert ist. Das setzt eine Grenze, die es unbedingt zu achten gilt. Bergpredigt und Davidsgeschichte sind Weisungen zum Leben an dieser Grenze.

1 Thomas Staubli: Gott unsere Gerechtigkeit. Begleiter zu den Sonntagslesungen aus dem Ersten Testament. Luzern 2000, 135. Dort finden sich weitere wesentliche Hintergründe zum Text.