Wir beraten

Das Evangelium aus dem Exil   

Dieter Bauer zur Lesung an Weihnachten am Tag SKZ 50/2006

Alttestamentliche Lesung: Jesaja 52,7–10
Evangelium: Joh 1,1–18

«Alle Jahre wieder» – so heisst es in dem bekannten Weihnachtslied – «kommt das Christuskind». «Alle Jahre wieder» freuen sich die Kinder auf Geschenke und vielleicht auch die Grossen an der Freude der Kinder. «Alle Jahre wieder» feiern wir die Ankunft des göttlichen Kindes am Weihnachtsfest. Aber: Ist das nicht auch ein Problem? Ist es nicht auch eine Entwertung, wenn dieses Besondere mit grosser Regelmässigkeit Jahr für Jahr wiederkommt? Wird nicht auch das Einmalige durch die ständige Wiederholung etwas «abgegriffen»?

Mit Israel lesen

Dieses Problem hatten die Menschen nicht, denen die Prophetie der heutigen Lesung gilt. Sie waren auf einem absoluten Tiefpunkt, verschleppt aus der judäischen Heimat: der Tempel Gottes, die heilige Stadt Jerusalem und womöglich noch vieles andere, was ihnen bisher heilig gewesen war, lag in Trümmern.

Ihnen gilt der Ruf des Propheten im Exil. Er stellt ihnen ein prächtiges Bild vor Augen, lädt sie praktisch ein zu einer «Traumreise»: Stellt Euch vor, Ihr wäret in der heiligen Stadt Jerusalem. Ihr schaut von dort auf die umgebenden Berge. Lasst Euch ein auf das, was ich euch anzukündigen habe:

Wie willkommen sind auf den Bergen /

die Schritte des Freudenboten, der Frieden ankündigt, /

der eine frohe Botschaft bringt und Rettung verheisst, / der zu Zion sagt: Dein Gott ist König. (Jes 52,7)

Hört genau hin, was die Wachtposten auf Jerusalems Mauern rufen:

Horch, deine Wächter erheben die Stimme, /

sie beginnen alle zu jubeln. Denn sie sehen mit eigenen Augen, /

wie der Herr nach Zion zurückkehrt. (Jes 52,8)

Der Herr, der Gott Israels, der so ganz anders ist als all die anderen «Herren», unter denen das Volk immer wieder zu leiden hatte, kehrt zurück in seine heilige Stadt auf den Zion. Er tritt seine Königsherrschaft wieder an, nachdem er vorher die Stadt zusammen mit den Exulanten verlassen hatte. So jedenfalls hatte es der Prophet Ezechiel geschildert: Über den «Berg im Osten der Stadt» – den Ölberg – war die Herrlichkeit des Herrn entschwunden (Ez 11,22 ff.). Nun also wird auf diesem Berg der Freudenbote sichtbar, der ankündigt: Die Zeit der Gottverlassenheit ist nun vorbei. Gott selbst hat entschieden, dass er seine Herrschaft wieder antreten will. Die Verse, die direkt vor dem Lesungstext stehen, beschreiben das im Bild der «Heiligung des Namens»:

Aber was erlebe ich jetzt – Spruch des Herrn – ?/

Man nahm mein Volk, ohne zu bezahlen, und nun prahlen seine Beherrscher – Spruch des Herrn –; /

ständig, jeden Tag wird mein Name gelästert. Darum soll mein Volk an jenem Tag meinen Namen erkennen /

und wissen, dass ich es bin, der sagt: Ich bin da. (Jes 52,5 f.)

Der «Name Gottes» – er selbst – wurde gelästert von den Fremdvölkern, die das Gottesvolk nun in der Gewalt haben. Was soll das für ein Gott sein, der sich nicht um sein Volk kümmert? Gott selbst wird deshalb daran etwas ändern. In einer Art Selbstgespräch («Was erlebe ich jetzt ?») entscheidet er, dass sein Volk heimkehren soll. Damit sein Name wieder geheiligt werde. Er «krempelt die Ärmel hoch»:

Der Herr macht seinen heiligen Arm frei /

vor den Augen aller Völker. Alle Enden der Erde /

sehen das Heil unseres Gottes. (Jes 52,10)

Und dies ist Anlass zur Freude für das in Trümmern liegende Jerusalem:

Brecht in Jubel aus, jauchzt alle zusammen, /

ihr Trümmer Jerusalems! Denn der Herr tröstet sein Volk, /

er erlöst Jerusalem. (Jes 52,9)

Dieses Bild von den jubelnden Trümmern wird leicht überlesen. Zu mächtig ist die Freude und der Jubel. Und doch spricht der Prophet von der Hoffnung für das Zerbrochene, in Trümmern Liegende. Hier wird nicht zuerst geheilt, repariert, aufgeräumt, renoviert und instandgesetzt, nein: die Trümmer sollen jubeln und jauchzen! Was heisst das anderes, als dass dieser «Herr», der heimkehrt, so ganz anders ist als die anderen «Herren». Sein Bote hat ein Faible für das «geknickte Rohr», das er nicht bricht, und den «glimmenden Docht», den er nicht löscht, wie es vorher im Lied vom Gottesknecht geheissen hatte (Jes 42,3).

Mit der Kirche lesen

Die frühe Kirche hat in diesem Gottesknecht wie auch im Freudenboten Jesus gesehen. Seinen Umgang mit dem Unheilen in dieser Welt fanden die ersten Christen in den Worten des Exilspropheten ausgedrückt:

Der Geist des Herrn ruht auf mir; /

denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, /

damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe;

damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde /

und den Blinden das Augenlicht;

damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe.

(Lk 4,18 f.; vgl. Jes 61,1f.; 29,18; 58,6)

Die «gute Nachricht», die der Freudenbote Jerusalem brachte, ist das «Evangelium» vom Anbrechen der «Königsherrschaft Gottes». Jesus hat es so gesagt: «Die Königsherrschaft Gottes ist da! Ihr müsst umdenken! Vertraut der guten Nachricht» (Mk 1,14). Und auf die Frage des Täufers liess er antworten: «Blinde sehen wieder und Lahme gehen; Aussätzige werden rein und Taube hören; Tote stehen auf und den Armen wird die gute Nachricht verkündet.» (Mt 11,5; vgl. Jes 26,19; 29,18; 35,5 f.; 61,1).

Da kümmert sich jemand im Auftrag Gottes um die «Trümmer», um die Armen, Gefangenen und Zerschlagenen, um die Blinden,Tauben und Lahmen, um all das, was so tot ist, dass niemand wirklich glauben kann, dass daraus noch einmal etwas wird. Es wäre wohl auch ein Missverständnis zu glauben, dass so etwas für Menschen tatsächlich «machbar» wäre. Zu nachdrücklich wird in unserem Lesungstext immer wieder darauf abgehoben, dass Gott selbst es ist und sein Geist, der all das wirkt. Die lang ersehnte «Königsherrschaft Gottes» bricht genau dort an und wird genau da erfahrbar, wo wir Menschen Gott wirken lassen. Das ist der Grund, warum Jesus beten gelehrt hat: «Deine Königsherrschaft komme» und «Geheiligt werde Dein Name».

Das wäre dann aber wirklich etwas Neues. Dann wäre wirklich Weihnachten, wenn wir der guten Nachricht des Freudenboten glauben könnten, dass Gott sich uns Menschen mit all unseren Trümmern zuwendet, weil er diese unheile Welt nicht mehr mit ansehen kann. Dass die «Königsherrschaft Gottes» tatsächlich angebrochen ist. Aber vielleicht braucht dieses Vertrauen auch Zeit? Und vielleicht ist es ja auch eine Chance, dass wir es immer wieder neu einüben können: in der Erwartung des Advents und in der Feier des angekommenen Freudenboten im Weihnachtsfest – «alle Jahre wieder».