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Bibelauslegung in 3D   

SKZ 5/2006

Vor einigen Jahren wurden zum Fernsehschauen sog. «3-D-Brillen» angeboten, die das Fernsehbild dreidimensional erscheinen liessen. Die «3-D-Brillen» sind irgendwann wieder verschwunden, die Technik hat sich nicht durchgesetzt. Aber ich bin sicher, dass auch in der heutigen Zeit der Flachbildschirme in Ingenieurbüros weiter an einer Technik gearbeitet wird, mit der dreidimensionales Fernsehen möglich wird.

Bibeltexte sind nicht nur Zweidimensional
Als Menschen, die in der Bibel lesen, sind wir auch Fernseher. Die Bibel lässt uns Zeugnisse von fernen Orten und aus fernen Zeiten sehen. Auch unser Bildschirm ist flach: ein zweidimensionales Blatt Papier. In der Geschichte der Bibelauslegung gab es immer wieder Versuche, die dritte, räumliche Dimension der Texte zu erschliessen: Der Kirchenvater Hieronymus bezeichnete das heilige Land als das «fünfte Evangelium», Archäologie und historische Forschung erschliessen uns die «Welt und Umwelt der Bibel», Krippendarstellungen erschaffen einen dreidimensionalen Raum für die Weihnachtsgeschichte, Krippenund Passionsspiele erfüllen diesen Raum mit Bewegung. Seit einigen Jahren hat sich das Bibliodrama als Methode entwickelt, biblischen Texten räumlich, in drei Dimensionen zu begegnen und sich in den biblischen Geschichten auch körperlich zu bewegen.

Raumeinteilung im Bibliodrama
Innerhalb der verschiedenen «Bibliodramaschulen» gibt es eine, in der die Raumeinteilung (oder Raumaufteilung in einem anderen Sprachgebrauch) wesentlich ist. Sie ist geprägt von den Holländischen Theologen Hermann Andriesen und Nico Derksen1 und ist seit mehreren Jahren durch Claudia Mennen, Leiterin der Fachstelle Erwachsenenbildung der katholischen Kirche im Aargau, auch in der Schweiz beheimatet. 2 In Kooperation zwischen der Fachstelle und dem Institut für kirchliche Weiterbildung IFOK werden in der Propstei Wislikofen zweijährige Ausbildungsgänge zur Bibliodramaleitung angeboten.

Dort findet im Mai auch das erste Schweizerische Bibliodrama-Symposion statt (nähere Hinweise am Ende).

Was bedeutet «Raumeinteilung» in dieser Form von Bibliodrama? Welchen Nutzen hat sie für andere Formen von Bibelarbeit, für Predigt und Liturgie? Ich möchte diesen Fragen anhand eines Bibeltextes nachgehen, der sog. Stillung des Seesturms im Markusevangelium (Mk 4,35–41), dem zentralen Evangelium des laufenden Lesejahres.3

35 Am Abend dieses Tages sagte er zu ihnen: Wir wollen ans andere Ufer hinüberfahren.

36 Sie schickten die Leute fort und fuhren mit ihm in dem Boot, in dem er sass, weg; einige andere Boote begleiteten ihn.

37 Plötzlich erhob sich ein heftiger Wirbelsturm, und die Wellen schlugen in das Boot, sodass es sich mit Wasser zu füllen begann.

38 Er aber lag hinten im Boot auf einem Kissen und schlief. Sie weckten ihn und riefen: , kümmert es dich nicht, dass wir zugrunde gehen?

39 Da stand er auf, drohte dem Wind und sagte zu dem See: Schweig, sei still! Und der Wind legte sich und es trat völlige Stille ein.

40 Er sagte zu ihnen: Warum habt ihr solche Angst? Habt ihr noch keinen Glauben?

41 Da ergriff sie grosse Furcht und sie sagten zueinander: Was ist das für ein Mensch, dass ihm sogar der Wind und der See gehorchen? (Einheitsübersetzung)

Die geografische und spirituelle Landschaft des Textes
Die Raumeinteilung im Bibliodrama bringt folgende Bestandteile des Textes zum Ausdruck:

1. die geografischen Hinweise, hier also die beiden Ufer, See und Boot;

2. die Bewegung, die im Text vorkommt, hier gleichsam die «Fahrrinne» von einem Ufer in Richtung des anderen;

3. die Polaritäten im Text: hier die Spannung zwischen Jesus und den Jüngern;

4. den theologischen Mittelpunkt nach der Auslegung der Leitung. Diese Mitte soll sichtbar, hörbar, begehbar und berührbar werden. Für Nico Derksen ist es hier nicht die Stillung des Sturms, sondern der Gegensatz zwischen Angst und Vertrauen, verkörpert in der Spannung zwischen den Jüngern und Jesus.

Derksen bezeichnet «Raumeinteilung als visualisierte Textauslegung. Die Landschaft des Textes sowohl geografisch als auch spirituell wird sichtbar».4 Die Raumaufteilung geht dem eigentlichen Spiel voraus und dient ihm: Sie soll helfen, eine Rolle und einen Platz zu finden und die Rollen anderer besser zu verstehen; sie soll Möglichkeiten und Mut zur Bewegung vermitteln. Sie gibt etwas vor, schafft aber gleichzeitig offene Räume. Selbstverständlich gibt es nicht die eine richtige Raumaufteilung. Jede spiegelt eine bestimmte Auslegung des Textes durch die Leitung oder durch die Auseinandersetzung der Gruppe mit dem Text wieder. Wie würden Sie diesen Text räumlich einteilen?

Eine visualisierte Textauslegung als Modell
Nico Derksens Raumeinteilung (S. 63) sieht so aus:

Das Ufer, an dem die Menschen zurückgeblieben waren und das andere Ufer als Tatsache und lockende Perspektive sind gleichermassen wichtig. Der See nimmt mit seinem Wasser den meisten Raum ein; auf dem See das Boot – ziemlich gross – und auf diesem Boot die Menschen mit ihren Gegensätzen und Aktivitäten. Sie rudern, sind vor Schreck überwältigt, sie schlafen, wecken, er spricht machtvoll, sie sind erstaunt und fürchten sich. In dieser Raumeinteilung können Menschen in der gewählten Rolle ihren Platz und ihre Position bestimmen, sie können beispielsweise näher bei Jesus sitzen wollen oder eher weiter entfernt; sie können in Ufernähe oder lieber am anderen Ufer sein wollen.

Die theologische Mitte
In der Mitte ist der Platz des Weckens. Jesus verkörpert in dieser Geschichte das Vertrauen, auch angesichts bedrohlicher Kräfte. Die Geschichte erzählt von der Angst vor Chaos und Todesnot, um die kein Mensch herumkommt. Wer auf Chaosmächte fixiert ist, wird sie vergrössern. Während die Chaosmächte aktiv sind, schläft und schlummert das Vertrauen. Vertrauen schläft und schlummert immer, es muss nur geweckt werden. Es ist gegenwärtig, aber nicht selbstverständlich aktiv, fruchtbar und einsetzbar. Es tritt zutage, «wenn es geweckt wird, wenn es beim Namen genannt wird, gebeten wird, mitten im Chaos seine Stimme zu erheben, zu sagen, was gesagt werden muss. Manchmal muss man gewaltsam schreien, um das Vertrauen zu wecken».5 Das Vertrauen ist keineswegs die Verneinung von Chaos und Angst, sondern vielmehr eine Leben spendende Kraft, die stärker ist als Angst. Im Raum dieses Textes wird es möglich, meinen gegenwärtigen persönlichen Ort zwischen Angst und Vertrauen zu finden, räumlich und körperlich zu erfahren, wie nah oder entfernt ich jeweils bin. Es wird aber auch möglich, mich zu bewegen, einen anderen Standort zu erproben, zu merken, wie es wirkt, wenn ich das Vertrauen wecke.

Raumaufteilung als Modell für Auseinandersetzung mit der Bibel
Hat die räumliche Einteilung eines Bibeltextes auch einen Nutzen für andere Formen von Bibelarbeit, für Predigt und Liturgie? Die Raumaufteilung liegt in der Verantwortung der Bibliodramaleitung. Die Erarbeitung dient dem genaueren Wahrnehmen und besseren Verstehen des Textes. Sie ergänzt andere Formen der Textaneignung wie exegetische Kommentare, den Vergleich von Übersetzungen usw. Stärker als andere Formen dient sie dem «Wohnen im Text» – ein Ausdruck aus dem Bibliodrama. Eine Raumaufteilung zu machen ermöglicht es mir, die verschiedenen Räume des Textes aufzusuchen, mich in ihnen niederzulassen und mich in ihnen zu bewegen; es ermöglicht mir, eigene Erfahrungen am Mittelpunkt des Textes zu machen. Im Text zu wohnen ist ganz wesentlich eine körperliche und räumliche Erfahrung. Insofern ist es eine Ergänzung jeder Arbeit mit biblischen Texten, sie auch räumlich wahrzunehmen und zu erfahren.

Raumaufteilungen in Predigt und Liturgie
Es gibt vielfältige Erfahrungen damit, Raumaufteilungen in Predigt und Liturgie einzusetzen. So lässt sich ein biblischer Text mit Orten innerhalb des Gottesdienstraums in Verbindung bringen, die Spannung zwischen Angst und Vertrauen in unserem Text etwa mit dunklen bzw. hellen Seiten in der Kirche oder mit dem Kreuzweg bzw. einem Auferstehungsbild. Die Predigt kann von diesen Orten aus gehalten bzw. während der Predigt können Kerzen an diesen Orten angezündet werden. Dadurch werden die Spannung und der dynamische Prozess zwischen solchen Orten stärker spürbar, der Gottesdienstraum wird als Raum für unterschiedliche Glaubenserfahrungen erlebbar.

In einem Weihnachtsgottesdienst erschloss die Predigt verschiedene Motive aus der Weihnachtsgeschichte, die durch Krippenfiguren und Symbole Gestalt annahmen und ihren Ort im Raum bekamen.

Die Gemeinde wurde zu einer Kerzenprozession eingeladen. Jede und jeder brachte die eigene Kerze zu der Gestalt, die sie am stärksten angesprochen hatte. Eine nahe Begegnung mit den biblischen Gestalten wurde möglich, gleichzeitig wurde sichtbar, dass es innerhalb der Gemeinde unterschiedliche Zugänge zur biblischen Geschichte gibt.

Das sind nur einige Ideen für bibliodramatische Methoden in der Pastoral. In der Propstei Wislikofen werden dazu Kurse angeboten: zur Gottesdienstgestaltung, für Lektorinnen und Lektoren, für Kommunionspenderinnen und -spender, bei Exerzitien im Alltag und – grundlegend – für die pastorale Identität. Näheres unter www.propstei.ch.

Erfahrungen mit Bibliodrama machen – Symposion 2006
Vom 11. bis 13. Mai 2006 findet unter dem Titel «Dem Lebendigen begegnen» das erste Schweizerische Bibliodramasymposion statt. Dabei wird es möglich sein, vier verschiedene Erfahrungen mit Bibliodrama zu machen (und dabei auch dessen Vielfalt kennen zu lernen). Im Mittelpunkt steht die Begegnung der Jüngerinnen und Jünger mit dem Auferstandenen am Kohlenfeuer (nach Johannes 21). Nach jedem Spiel wird die Erfahrung mit einer Frage reflektiert, die auf den Nutzen von Bibliodrama für die pastorale Praxis zielt:

Was tragen bibliodramatische Elemente zu einem neuen Verstehen biblischer Text bei? Wie hilft die kreative Gestaltung des Textes zu einem vertieften Verstehen meiner Selbst? Wie unterstützt Bibliodrama das Gespräch über den Glauben? Wie wird mit Bibliodrama Teilhabe am Ganzen erfahren und gefeiert? Die Erfahrung in Kleingruppen wird ergänzt durch Plenarveranstaltungen. Eingeladen sind: Frauen und Männer, die mit der Bibel arbeiten. Vorkenntnisse sind keine Vorraussetzung.

Das Symposion wird von einer breiten ökumenischen Trägerschaft organisiert. Dazu gehören neben der Bibelpastoralen Arbeitsstelle das IFOK, die katholische Erwachsenenbildung im Aargau, wtb-deutschschweizer Projekte Erwachsenenbildung, die reformierte Pfarrerweiterbildung und die Interessengemeinschaft Bibliodrama IGB.

Anmeldung: bis zum 1. März bei der Propstei Wislikofen, 5463 Wislikofen,Telefon 056 201 40 40, infopropstei. Nähere Informationen auch

unter
www. bibelwerk.ch

und
www.bibliodrama.net.

Peter Zürn ist Theologe und Familienmann, er ist Fachmitarbeiter der Bibelpastoralen Arbeitsstelle in Zürich und Bibliodramaleiter.

1 [zurück] Aktuell erschienen ist von Nico Derksen: Bibliodrama. Impulse für ein neues Glaubensgespräch. Ein Praxisbuch. (Patmos) Düsseldorf 2005.
2 [zurück] Siehe dazu: Claudia Mennen: Bibliodrama und Seelsorger, in: SKZ 173 (2005), Nr. 5, 88–90.
3 [zurück] Vgl. dazu: Peter Zürn: Vom Wunderglauben zum Glaubenlernen, in: SKZ 173 (2005), Nr. 48, 849 f. 4 Derksen, 63.