Wir beraten

40 Jahre «Dei Verbum»   

Dieter Bauer, SKZ 46/2005

Man wird sagen dürfen, dass die katholische Frömmigkeit die Bibel weithin erst noch richtig entdecken muss», so schrieb der damalige Konzilsberater und heutige Papst Benedikt XVI. vor 40 Jahren in seinem Kommentar zu einem der wichtigsten Dokumente des II. Vatikanischen Konzils, der dogmatischen Konstitution über die göttliche Offenbarung «Dei Verbum» (DV). Hat die katholische Frömmigkeit die Bibel seither entdeckt?

Die katholische Bibelbewegung vor dem Konzil
Bereits zu Anfang des vergangenen Jahrhunderts hatte die Katholische Bibelbewegung eine neue Grundeinstellung zur Heiligen Schrift vorbereitet. Immer selbstverständlicher griff man in Theologie und Frömmigkeit auf die Bibel zurück. Die Katholische Bibelbewegung mündete dann – zusammen mit der Liturgischen Bewegung – unmittelbar in die Beratungen des II. Vatikanischen Konzils, die diese Vorarbeiten nur aufnehmen und vertiefen musste. Allerdings ging das nicht ganz problemlos. Wie alle anderen Konzilsdokumente, so ist auch DV ein «Kompromissdokument». Diejenigen, die vor noch nicht allzu langer Zeit für die Verurteilungen von Theologen verantwortlich waren, welche – als «Modernisten» beschimpft – die historischkritische Bibelauslegung für die katholische Kirche fruchtbar machen wollten, nahmen auch am Konzil teil. Und doch muss man sagen, dass mit DV eine kleine Sensation gelungen war. Ich möchte dies vor allem an drei Entwicklungen aufzeigen:

Von der lateinischen Bibel zu den Urtexten
Die bis zum Konzil selbstverständliche und ausschliessliche Anerkennung der lateinischen Bibel (Vulgata) als «authentisch» wurde relativiert, indem man davon sprach, die Kirche halte sie «immer in Ehren». Demgegenüber wird in DV klar formuliert – eine alte Forderung der Reformatoren! –, dass es die (hebräischen, aramäischen und griechischen) Urtexte sein müssen, aus denen für die heutige Zeit übersetzt wird: «Da aber das Wort Gottes allen Zeiten zur Verfügung stehen muss, bemüht sich die Kirche in mütterlicher Sorge, dass brauchbare und genaue Übersetzungen in die verschiedenen Sprachen erarbeitet werden, mit Vorrang aus dem Urtext der Heiligen Bücher.» Und der Ökumene wird der Weg über gemeinsame Bibelübersetzungsprojekte geebnet, wenn formuliert wird: «Wenn die Übersetzungen bei sich bietender Gelegenheit und mit Zustimmung der kirchlichen Autorität in Zusammenarbeit auch mit den getrennten Brüdern zustande kommen, dann können sie von allen Christen benutzt werden» (DV 22). Ohne solche Aussagen wären Projekte wie die Einheitsübersetzung oder die «Bibel in heutigem Deutsch» undenkbar gewesen! Wenn nun allerdings die römische Instruktion «Liturgiam authenticam» (2001) zur Geschäftsgrundlage für die Revision der Einheitsübersetzung gemacht werden soll, die – gegen den klaren Willen des Konzils! – für «die Festlegung des kanonischen Schrifttextes» fordert, dass man sich «nach der Norm der Nova Vulgata richtet» (ebd., 37), so wird ein ökumenisches Miteinander bei Bibelübersetzungen in Zukunft verunmöglicht.

Die Bibel als «Seele der Theologie»
Geradezu revolutionär war die Formulierung einer christlichen Theologie, in der die Bibel als Fundament dient: «Die heilige Theologie ruht auf dem geschriebenen Wort Gottes (...) wie auf einem bleibenden Fundament. In ihm gewinnt sie sichere Kraft und verjüngt sich ständig» (DV 24).War die bisherige Dogmatik stets von einer kirchlichen Lehrvorlage ausgegangen, um im Anschluss daran einen «Schriftbeweis» nachzuliefern, so wurde dies geradezu umgekehrt: Nun soll die Bibel zuerst betrachtet und befragt werden, und erst daraus kann sich die Tradition entfalten. Dass eine solche Vorgangsweise kein «Ausrutscher» von DV war, sieht man unter anderem daran, dass das Dekret über die Priesterausbildung («Optatam totius») das selbe einfordert: die dogmatische Theologie sei so anzulegen, «dass zuerst die biblischen Themen selbst vorgelegt werden» (OT 16). So neu war die Formulierung der Bibel als «Seele der Theologie» übrigens gar nicht. Sie stammt von Papst Leo XIII. (1878-1903). Auch er, der «Arbeiterpapst», hatte sich auf die «sichere Kraft» der Bibel verlassen und von einer Kirche geträumt, die sich daraus «ständig verjüngt».

Der «Tisch des Wortes» und der «Tisch des Brotes»
War die Frömmigkeit katholischer Christen bis zum II. Vatikanischen Konzil neben der Teilnahme an der Heiligen Messe wesentlich durch Andachtsformen wie Rosenkranz, Kreuzweg, Marien- und Herz-Jesu-Verehrung bestimmt, aber kaum durch persönliche Schriftlesung, so setzte DV auch hier neue Akzente. Der Wert der Heiligen Schrift wurde dem der Heiligen Eucharistie gleichgestellt: «Die Kirche hat die Heiligen Schriften immer verehrt wie den Herrenleib selbst, weil sie, vor allem in der heiligen Liturgie, vom Tisch des Wortes Gottes wie des Leibes Christi ohne Unterlass das Brot des Lebens nimmt und den Gläubigen reicht» (DV 21). Die Aufwertung des «Wort-Gottesdienstes», das reicher angerichtete Mahl auf dem «Tisch des Wortes» durch die Ausweitung der Schriftlesungen und der Wille zu einer biblischeren Predigt sind natürlich Konsequenzen aus dieser Einsicht gewesen. Noch einmal Josef Ratzinger in seinem Kommentar zu DV: «Gerade (...) die Bereitschaft, den Samen des Wortes Gottes in der Bibel freigebig und furchtlos auszustreuen, auch wo man das, was daraus wächst, nicht überwachen noch kontrollieren kann, ist ein volles Ja zum universalen Sinn und zur inneren Kraft des Gotteswortes, das nicht fruchtlos zurückkehrt (Jes 55,10 f.).»

Was bleibt? Was wäre noch zu tun?
Schaut man zurück auf die vergangenen 40 Jahre, so muss man feststellen, dass die Aussagen des Konzils in DV bis heute nichts von ihrer Brisanz verloren haben:

1. Auch wenn man sagen muss, dass sich die Liturgie nach dem Konzil stark verändert hat und der Heiligen Schrift in Lesung und Verkündigung einen weitaus grösseren Raum gibt, so wird doch in der Praxis leider häufig auf eine zweite Schriftlesung – meist die alttestamentliche – verzichtet, und auch die Predigten sind nicht automatisch und überall biblischer geworden.

2. Auch wenn es sich in der Universitätstheologie eingebürgert haben mag, dass eine Dogmatik eine biblische Grundlage braucht, so ist das nicht unbedingt allen römischen Lehrdokumenten abzuspüren, die doch oft in alter Manier die Bibel als Steinbruch benützen um lehramtliche Aussagen zu «beweisen».

3. Wenn man bedenkt, dass in DV klar formuliert war, das Lehramt sei «nicht über dem Wort Gottes, sondern dient ihm» (DV 10) und «jede kirchliche Verkündigung (muss) sich von der Heiligen Schrift nähren und sich an ihr orientieren» (DV 21), so kann man sich schon fragen, ob der Stil mancher römischer «Instruktionen» dem Offenbarungsverständnis von DV entspricht.

4. Der höhere Stellenwert des Alten Testaments und damit eine Anerkennung der ganzen Bibel als Heilige Schrift, auch die Berücksichtigung der Tatsache, dass Jesus Jude war, ist noch längst nicht im allgemeinen Bewusstsein der Gläubigen angekommen. Zum Glück gab es seit dem II. Vatikanischen Konzil mehrere römische Verlautbarungen, die diese Linie unterstützen. Erinnert sei an die Dokumente «Die Interpretation der Bibel in der Kirche» (1993) und «Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel» (2001).

Es gibt noch unendlich viel zu tun, bis sich wirklich bei allen Gläubigen das Bewusstsein gebildet hat, dass die Heilige Schrift «die höchste Richtschnur ihres Glaubens» (DV 21) ist.

Dieter Bauer ist Zentralsekretär des Schweizerischen Katholischen Bibelwerks und Leiter der Bibelpastoralen Arbeitsstelle in Zürich.