Wir beraten

«Es ist vollbracht» – ein Gespräch über die Passionsgeschichte im Johannesevangelium.   

Peter Zürn, Bibel heute 1/2006

In der Ausgabe 1/2006 der Zeitschrift Bibel heute wird ein Bibelprojekt von Peter Zürn zur Johannespassion vorgestellt. Dabei geht es gleichermassen um die biblische Passionsgeschichte wie um das musikalische Werk von Johann Sebastian Bach. Im Zentrum steht die Frage, in welcher Situation einer christlichen Gemeinde die Passionsgeschichte entsteht und wie sie im Lauf der Geschichte wirkt. So kommt auch die Situation heutiger Gemeinden in den Blick.
Bibliodramatische Methoden – es treten Personen von heute, aus der Gemeinde des Evangelisten Johannes und aus der Sankt Nikolai Gemeinde in Leipzig zur Zeit Bachs auf – fliessen in eine Predigt der besonderen Art ein. Alle rollen werden von Peter Zürn an verschiedenen Orten gespielt. Es entsteht ein etwa einstündiges «Gespräch über die Johannespassion». zum ersten Mal fand dieses Gespräch als Karwochenpredigt in der Pfarrei St. Peter und Paul in Aarau in der Karwoche 2005 statt. Die TeilnehmerInnen am Gespräch sind gerne bereit, ihr Gespräch auch an anderen Orten fortzusetzen. Wenden Sie sich an peter.zuern@bibelwerk.ch

Hier der vollständige Text des Gesprächs:

«Der Held aus Juda siegt mit Macht und schliesst den Kampf- es ist vollbracht» – dieser ungewöhnliche Titel für eine Karwochenpredigt ist entnommen aus dem Text der Johannespassion von Johann Sebastian Bach. Direkt vor dem Tod Jesu am Kreuz heisst es in einer Arie:

Es ist vollbracht
O Trost für die gekränkten Seelen
Die Trauernacht
Lässt mich die letzte Stunde zählen
Der Held aus Juda siegt mit Macht
Und schliesst den Kampf
Es ist vollbracht.

(Vorspielen der entsprechenden Arie aus der Johannespasssion)

«Es ist vollbracht» sind nach der Passionsgeschichte im Johannesevangelium die letzten Worte Jesu am Kreuz.

Das Johannesevangelium unterscheidet sich deutlich von den drei anderen Evangelien. Das zeigt z.B. ein Vergleich der letzten Worten Jesu am Kreuz.

Bei Markus und Mt schreit Jesus mit den Worten von Psalm 22: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Ein Gebet und zugleich verzweifelte Klage der Gottverlassenheit.

Bei Lukas stirbt Jesus mit einem anderen Psalm auf den Lippen, Ps 31: Vater in deine Hände lege ich meinen Geist. Ein Ausdruck des Gottvertrauens noch im Moment des grausam erlittenen Todes.

Der Tod Jesu wird bei Johannes folgendermassen erzählt:

(Joh 19,28-30 lesen)

Dreimal taucht das Wort «vollbringen, vollenden, erfüllen» auf. Im Griechischen ist es dreimal das gleiche Wort. Im Tod am Kreuz bringt der Jesus des Johannesevangeliums sein Lebenswerk zur Vollendung. Und damit vollendet er den Willen Gottes. Sein Sterben ist Übergang zum Vater, Hinübergang in die Herrlichkeit Gottes. In der Passionsgeschichte des Johannes ist Jesus, der Gekreuzigte, der souverän und in grosser Würde Handelnde. Das Kreuz wird als Ort der Erhöhung und Verherrlichung Gottes gezeigt.

Die Johannespassion von Bach nimmt diese Eigenart des Evangeliums auf im Bild vom Held aus Juda, der mit Macht siegt.

Diese Vorstellung von Jesus als Held, das Bild vom souverän und in Würde Leidenden und Sterbenden ist uns heute vermutlich nicht so leicht zugänglich, wie die Art wie die anderen drei Evangelien das Sterben Jesu zeigen. Was Gott mit dem Tod Jesu am Kreuz zu tun hat, das ist heute heftig umstritten. Ist das Kreuz, ist Leiden notwendig für unser Heil? Zeigt sich am Kreuz Gottes Herrlichkeit?

Die grossen Unterschiede in den Passionsgeschichten der vier Evangelien lassen die Frage aufkommen, wie es denn nun wirklich war, damals. Als vor einem Jahr der Passionsfilm von Mel Gibson in die Kinos kam, hiess es kurzzeitig er zeige, wie es wirklich war bei der Kreuzigung Jesu. Das Wort: «it is as it was», machte die Runde. Es wurde aber sehr bald wieder zurückgenommen. Denn jeder Blick ins Neue Testament zeigt, dass wir in den vier Evangelien vier verschiedene Geschichten von der Passion Christi vorliegen haben. Und jede Nachfrage bei Bibelwissenschaftlerinnen und Bibelwissenschaftlern ergibt die Auskunft, dass die Evangelien keine historischen Reportagen sind und auch keine historischen Reportagen sein wollen. Sie sind in erster Linie Glaubenszeugnisse. Ausdruck des Glaubens von Menschen, die lange nach Jesus lebten; für die die Geschichte Jesu nicht mit seinem Tod zu Ende war, sondern ganz überraschend und lebendig weiterging. Die sich deswegen an sein Leben erinnern und sich fragen, wie sie ihr Leben – mindestens eine Generation später – an Jesus ausrichten können, die sich fragen, was der Glaube an einen Gekreuzigten und Auferstandenen heute, zu anderen Zeiten und unter anderen Lebensumständen bedeuten kann. Glaube inklusive aller Zweifel und offenen Fragen. Die Evangelien sind Zeugnisse der Fragen und der Überzeugungen von christlichen Gemeinden. Es gab nie eine einzige, einheitliche christliche Gemeinde, es gab immer Vielfalt und Unterschiede, auch Widersprüche. Die vier Evangelien zeigen diese Vielfalt. Was christlicher Glaube bedeuten kann, ist nicht ein für alle Mal klar. Es muss sich erweisen angesichts der Herausforderungen einer bestimmten Zeit. Auch das zeigen die vier Evangelien. Das zeigen aber auch die 2000 Jahre, in denen Menschen diese Evangelien lesen und versuchen, ihr Leben daran zu orientieren. Auch hier Vielfalt. Auch hier Widersprüche.

Umgang mit Vielfalt und Widersprüchen ist etwas zutiefst Biblisches. Die Bibel ist zurecht als Lernschule für Pluralität bezeichnet worden. In den vier Evangelien wird das besonders deutlich, auch in ihren Passionsgeschichten.

Heute Abend steht die Passionsgeschichte des Johannesevangeliums im Mittelpunkt. Ich möchte Ihnen etwas von der Eigenheit dieser Geschichte zeigen. Ich möchte erfahrbar machen, in welcher Art von Gemeinde diese Geschichte entstand, auf welche Fragen und Herausforderungen sie bezogen ist. Und ich möchte erfahrbar machen, wie diese Geschichte weiterwirkt. Wie sie in späteren Zeiten gelesen wird, hörbar gemacht wird, aktualisiert wird, welche Fragen sie aufwirft und welche Glaubenserfahrungen sie ermöglichen kann. Deswegen sind Menschen aus verschiedenen Zeiten zusammengekommen. Menschen von heute, Menschen aus der Zeit, in der das Johannesevangelium entstand und Menschen aus der Zeit, in der die Johannespassion von Johann Sebastian Bach entstand. Sie sind durch lange Zeiträume getrennt. Was sie verbindet, ist die Frage nach dem Glauben an einen Menschen, in dem Gott lebendig wurde, der erfahrbar machte, dass das Reich Gottes mitten unter uns und Leben in Fülle möglich ist, vor dem Tod und über den Tod hinaus. Was sie verbindet, ist, dass sie Teil einer Gemeinde sind, nicht nur als Einzelne fragen, sondern in Beziehung zu anderen stehen. Das Heil von dem die Bibel erzählt, ist nicht vereinzelt erfahrbar. Es ist auf Beziehung angewiesen und auf Beziehung ausgerichtet. Es will geteilt werden, mitgeteilt. Deswegen führen wir ein Gespräch miteinander. Wozu ich Sie heute abend einlade, hat den Charakter eines Spiels mit verschiedenen Rollen, einer Art Theater-Inszenierung. Das passt durchaus zum Johannesevangelium, das sich als Drama mit verschiedenen Akten, mit Prolog und Nachspiel beschreiben lässt. Auch die Passionsgeschichte selbst trägt Züge eines Dramas in mehreren Szenen. Und auch die Johannespassion Bachs beinhaltet verschiedene Rollen, einen Evangelisten, Jesus, das Volk, das im Chor singt. Es gibt auch heute Formen, sich biblischen Geschichten im Spiel annzunähern, Osterspiele, Krippenspiele, Sternsinger. Die Form heute abend ist inspiriert vom Bibliodrama.

Bei uns sind heute zwei Menschen zu Gast.

Hier sitzt Johanna von Bathyra. Sie gehört zu der Gemeinde, in der das Johannesevangelium entstand. Sie lebte am Ende des ersten Jahrhunderts nach Christus. Schön, dass sie den weiten Weg hierher gemacht hat.

Auf der anderen Seite sitzt Rainer Maria Schwenkmann. Er ist Mitglied der Sankt Nikolai-Gemeinde in Leipzig und lebte im 18. Jahrhundert. In der Nikolaikirche wurde die Johannespassion von Bach am Karfreitag 1724 zum ersten Mal aufgeführt. Herr Schwenkmann hat die Aufführung miterlebt und auch die Reaktionen darauf in der Gemeinde mitbekommen.

Und dann sitzen hier noch Sie. Menschen aus dem Jahr 2005. Sie haben sich zu einer Karwochenpredigt der katholischen Gemeinde Aarau eingefunden. Sie sind auf ihre Art irgendwie mit dieser Gemeinde verbunden. Sie interessieren sich für das Johannesevangelium und seine Passionsgeschichte. Ich möche zunächst Ihnen das Wort geben. Ich möchte Raum geben für Fragen an die Passionsgeschichte des Johannes. Ich sehe auch schon hier vorne zwei Wortmeldungen.

Erste Person aus der heutigen Gemeinde:

Ich habe eine Frage an Johanna von Bathyra aus der Gemeinde des Johannesevangeliums. Ich knüpfe an an das, was wir schon über das Bild von Jesus in der Passionsgeschichte gehört haben. Er ist der Souveräne, der Herr des Geschehens bleibt, auch während seines Leidens und Sterbens. Er ist derjenige, der damit den Willen Gottes vollendet und Gott verherrlicht. Mir ist dieser Jesus fremd. Er ist so anders. Er wirkt übermenschlich und abgehoben. Er ist auch irgendwie ein Fremdkörper in seiner Umwelt. In den letzten Jahren ist in unserer Kirche die Erkenntnis immer mehr gewachsen, dass Jesus ein Mensch seiner Zeit war und nur auf dem Hintergrund des Judentums seiner Zeit zu verstehen ist. Überhaupt wird immer klarer, wie stark unsere Religion, das Christentum, im Judentum wurzelt und ein jüdisches Erbe trägt. Von dieser engen Verwandtschaft zum Judentum spüre ich beim Jesus, von dem euer Evangelium erzählt, gar nichts. Im Gegenteil. Jesus scheint im grossen Gegensatz zu «den Juden» zu leben. Immer wieder ist gerade in der Passionsgeschichte davon die Rede, wie «die Juden» Jesus ablehnen und für seinen Tod mitverantwortlich sind. Der Prozess gegen Jesus nimmt ja in der Passionsgeschichte eures Evangeliums einen grossen Raum ein. Es wirkt beinahe so, als hätte der römische Statthalter Pilatus das Todesurteil gegen seine Überzeugung ausgesprochen, weil er von den Juden dazu gezwungen wurde. Ist die Passionserzählung des Johannes antijüdisch?

Zweite Person von heute:

Ich möchte das noch ergänzen. Auf mich wirkt das ganze Evangelium sehr dualistisch. Es gibt Schwarz und Weiss. Jesus wird als das Licht bezeichnet, das in die Finsternis der Welt kommt oder als Wahrheit, die in der Welt nicht erkannt wird. Immer wieder der Gegensatz zur Welt. Als ob es in der Welt gar nichts Helles gäbe, als ob es da gar keine Wahrheit gäbe. Mir gefällt dieser Dualismus nicht. Ich sehe die Welt, sehe andere Wahrheiten nicht so negativ. Ich finde, wir Christinnen und Christen sind ein Teil dieser Welt und eng mit ihr verbunden. Mir ist ein Dialog mit Andersdenken und Andersgläubigen wichtig. Dabei sind viele Aussagen des Johannesevangeliums aber eher hinderlich. Sie klingen so exklusiv, sie scheinen andere auszuschliessen, etwa wenn Jesus sagt: «Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.» Was ist mit anderen Wegen und Wahrheiten?

Johanna von Bathyra

Was ihr da wahrnehmt, stimmt. Ich möchte es sogar noch weiterführen: Unser Evangelium erzählt von einem Jesus, der nicht einmal von allen seinen Jüngerinnen und Jüngern verstanden und akzeptiert wird. Judas verrät ihn und Petrus verleugnet ihn und in der sogenannten Brotrede, wo Jesus sagt:

«Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel herabgekommen ist. Wer von diesem Brot isst, wird in Ewigkeit leben. Das Brot, das ich geben werde, ist mein Fleisch für das Leben der Welt» (6,51f.)

da kommt es zu einer Spaltung unter den Jüngern. Viele meinen: Was er sagt ist unerträglich. Sie murren und ziehen sich zurück.

In all dem spiegelt sich die Erfahrung unserer Gemeinde. Wir sitzen zwischen allen Stühlen und erregen überall Anstoss. Die jüdischen Gemeinden haben uns aus der Synagoge ausgeschlossen. Das kann ich sogar ein Stück weit verstehen. Nach dem Krieg gegen die Römer und der katastrophalen Niederlage und der Zerstörung des Tempels haben sich die jüdischen Gemeinden auf das alltägliche Leben nach den Weisungen der Tora konzentriert und wollen auf gar keinen Fall mehr in den Verdacht geraten irgendwie antirömisch eingestellt zu sein. Und da wir uns auf einen Messias berufen, der auch sehr Torakritisches gesagt hat und der von den Römern als politischer Aufrührer gekreuzigt wurde, sind wir für die jüdischen Gemeinden eine Gefahr. Das spiegelt die Darstellung des Prozesses gegen Jesus. Immer wieder geht es darum, ob Jesus den Anspruch erhebt, der König der Juden zu sein. Das wäre ein direkter Angriff auf die römische Oberherrschaft gewesen. Und um selber nicht in diesen Verdacht zu geraten, opfern die Juden Jesus und sagen: «Es ist besser, dass ein einziger Mensch für das Volk stirbt.» Das ist genau das Schicksal unserer Gemeinde. Wir sind aus der Synagoge ausgeschlossen worden, damit die Römer die jüdischen Gemeinden in Ruhe lassen. Dieser Ausschluss hatte schwerwiegende Folgen. Vor allem in Gegenden, in denen ein grosser Teil der Bevölkerung jüdisch ist. So wie es bei unserer Gemeinde der Fall ist. Wir wurden gesellschaftlich und wirtschaftlich an den Rand gedrängt und boykottiert. Entsprechend heftig haben wir auch reagiert. In unserem Evangelium werden die Juden einmal sogar als Kinder des Teufels bezeichnet (8,44). Wir waren dann auch in der Passionsgeschichte nicht mehr sehr differenziert und haben oft von «den Juden» gesprochen, die die Hinrichtung Jesu betrieben haben. Wir wissen natürlich, dass es vor allem die mächtigen Kreise waren, vor allem die Hohenpriester und ihre Partei, die Sadduzäer, die gegen Jesus vorgingen. Aber die gab es ja zu unserer Zeit schon lange nicht mehr. Sie waren mit dem Tempel untergegangen. Manchmal schien es uns so, als ob alle Juden gegen uns waren und das haben wir dann auch in die Geschichte Jesu eingetragen.

Der Besuch im Jahr 2005 hat mir gezeigt, welch schreckliche Wirkung das hatte; wie oft sich Christinnen und Christen auf unser Evangelium berufen haben, um jüdische Menschen zu diskriminieren und Gewalt gegen sie zu rechtfertigen. Dass so etwas passieren kann, konnten wir uns damals beim besten Willen nicht vorstellen.

Wir wurden ausgegrenzt und das hat weh getan. Es war noch schwieriger auszuhalten, weil es uns nicht nur von Seiten der jüdischen Gemeinden so erging. Das habe ich ja schon angedeutet. Wir sassen wirklich zwischen allen Stühlen. Unsere Art zu leben und zu glauben, stand auch im klaren Widerspruch zur übrigen Gesellschaft im römischen Reich. In unserer Gemeinde gab es kein Oben und Unten. Wir erkannten nur Christus als Herrn an, sonst keinen. Wir waren ein Kreis von Gleichen, von Freundinnen und Freunden. Wir haben das römische System abgelehnt, in dem wenige Reiche und Mächtige auf Kosten Vieler leben, die sie ausbeuten. Wir haben das System abgelehnt, das auf Sklaverei beruhte und man nur etwas erreichen konnte, wenn man sich bei einem Mächtigen so sehr einschmeichelte, dass er einem half. Ein System, das der Kaiser als oberster Herr verkörperte, der sich anmasste Gott zu sein. Dieses System regierte damals die Welt, es war die Welt und in dieser Welt war für uns kein Licht und keine Wahrheit. Darin konnte man nicht in der Nachfolge Christi leben. Wir wollten eine andere Welt, ein anderes Leben und für uns hatte das in Christus begonnen und würde sich bald vollenden. Über diese Welt wurde Gericht gehalten. Da waren keine Kompromisse möglich.

Ein letztes muss ich leider noch sagen: Mit unserer Art als christliche Gemeinde zu leben, in einem engen Kreis von Gleichberechtigten, ohne Ämter und Hierarchien, waren wir auch innerhalb der christlichen Bewegung immer mehr zu Aussenseitern geworden. Je mehr sich dort Ämter und Strukturen herausbildeten, desto fremder wurden wir. Davon erzählt unser Evangelium, wenn es von der Spaltung der Jüngerinnen und Jünger erzählt. Für uns blieben nur wenige dem treu, was Jesus Christus wirklich wollte und was er verkörperte. Die hierarchische Kirche, die immer mehr entstand, die berief sich stark auf Petrus. Für uns verleugnet diese Kirche Christus, so wie es Petrus im Evangelium tut. Wir erzählen in der Passionsgeschichte von einer anderen Kirche, von Menschen unter dem Kreuz, vier Frauen und der Jünger, den Jesus liebte. Sie verkörpern die zukünftige Gemeinde Christi. Wir erkennen darin unsere Gemeinde. Eine der vier Frauen ist Maria, die Mutter Jesu. Sie steht für den Teil des Volkes Israel, der sich der Botschaft Jesu nicht verschlossen hat, für die judenchristlichen Mitglieder unserer Gemeinde. Sie erinnert uns daran, dass wir aus dem Judentum stammen und wieviel wir ihm verdanken. Der Jünger, den Jesus liebte, steht für die neue christliche Gemeinde, die sich auch für die Heiden öffnet, die offen ist für alle wahrhaft Suchenden. So wie Jesus seiner Mutter einen neuen Sohn ans Herz legt und dem Jünger, den er liebte, seine Mutter, so sehen wir unsere Beziehungen untereinander als neue Familie, als Kreis von Freundinnen und Freunden. Das trägt uns in der Bedrängnis, die uns von allen Seiten widerfährt. Unser zentraler, ja unser einziger Bezugspunkt, unser Weg, unsere Wahrheit, unser Leben ist Jesus Christus. Er ist für uns das lebendige Wasser, das Brot des Lebens. Unser Evangelium ist für Insider aus unserer Gemeinde gedacht. Es setzt den Glauben an Christus, wie wir ihn pflegen, voraus. Es will nicht bei Aussenstehenden für diesen Jesus werben oder ihn verständlich machen. Es will unseren vorhandenen Glauben in der Bedrängnis bestärken. Wir meditieren über die Bedeutung Christi für unser Leben. Deswegen ist das Evangelium nicht wie die anderen und erzählt kurze anschauliche Geschichten und Worte Jesu. Es kreist in langen Reden und Gesprächen um die Bedeutung Christi für uns. Es meditiert Christus in Bildern und Symbolen. Wir betreiben eine radikale Christusmystik. Eine Mystik, die tief und innerlich ist, zugleich aber auch radikal politisch. Das ganze Evangelium und auch die Passionsgeschichte sind ein Zeugnis unseres Glaubens.

Gesprächsleiter:

Ich sehe schon die ganze Zeit, wie Rainer Maria Schwenkmann immer ungeduldiger auf seinem Stuhl hin und her rutscht. Ich würde jetzt gerne ihm einmal das Wort geben.

Rainer Maria Schwenkmann

Danke schön. Tatsächlich hat mich sehr viel von dem, was hier gesagt wurde, berührt und angesprochen und mir im Nachhinein deutlich gemacht, wieso die Aufführung der Johannespassion mich so tief bewegt hat.

Mir ist deutlich geworden, wie sehr das Johannesevangelium in den Erfahrungen einer Gemeinde wurzelt. Diese Verbindung zum Gemeindeleben bringt auch Bachs Johannespassion zum Ausdruck. Sie ist ja durch 11 Gemeindechoräle gegliedert, von denen fast alle zum gebräuchlichen Liedgut evangelischer Gemeinden gehören. Es finden sich unter anderem Choräle von Martin Luther, von Paul Gerhart und Michael Weisse. Die Gemeindechoräle wechseln sich ab mit der Erzählung des Evangelisten und der Stimme Jesu. Die drei Stimmen führen ein Gespräch miteinander.

Noch mehr aber spricht mich an, dass das Johannesevangelium das Ziel hat, den Glauben zu bestärken und zu bezeugen. Genau das habe ich beim Hören der Johannespassion von Bach erlebt. Wir haben nach der Aufführung lange in der Gemeinde über die Wirkung gesprochen. Später kam Bach selber dazu. Bach hat seine Johannespassion als kirchliche Verkündigung verstanden, als musikalische Predigt. Sie setzt etwas fort, was schon der biblische Text will: nämlich den Glauben der Hörenden herauszufordern.
Ich habe gespürt, dass mich diese Musik nicht gleichgültig lässt, sie einfach nur zu geniessen, innerlich unbeteiligt zu bleiben, war mir unmöglich. Ich habe mich als gläubiger Mensch angesprochen gefühlt, mein Glaube ist bestärkt worden.

Insofern ist auch die Johannespassion von Bach ein Werk für Insider, für bereits Glaubende, bereits mit Christus Verbundene, genau wie das Johannes-Evangelium.

Allerdings muss ich gestehen, dass wir in der Gemeinde auch Mühe hatten mit Bachs musikalischer Verkündigung. Einigen erschien es gar zu modern, was wir da hörten. Bach malte mit seiner Musik gleichsam Bilder aus der Passionsgeschichte. Die einzelnen Szenen wurden sichtbar, hörbar, erlebbar, kamen uns nahe und liessen niemanden kalt. Vor allem die Szene als die Soldaten Jesu Mantel zerteilen wollten und dann darum würfelten, wurde durch die musikalische Gestaltung mit Synkopen und Schüttelbewegungen erfahrbar.

(Vorspielen des entsprechenden Stücks aus der Johannespassion)

Johanna von Bathyra

Darf ich mich da mal einmischen. Über diese Szene haben wir in der Gemeinde lange diskutiert. Im Markusevangelium, das wir kannten, wird bereits erwähnt, dass Soldaten die Gewänder Jesu unter sich verteilen. Damit spielt Markus auf ein Psalmwort an: «Sie verteilen unter sich meine Kleider und werfen das Los um mein Gewand.» Bei Markus ist Jesus eng verbunden mit den unschuldig Leidenden, von denen die Bibel schon früher erzählt hat. Johannes hat die Szene dann viel ausführlicher gestaltet. Zunächst hat er geschrieben, dass es sich um vier Soldaten handelte. Vier, das war die Zahl der «Welt». In allen vier Himmelsrichtungen, auf der ganzen Welt gibt es Menschen, die Jesus ablehnen und damit gewissermassen ans Kreuz schlagen. Entsprechend hat Johannes nachher von den vier Frauen unter dem Kreuz erzählt, die genau das Gegenteil tun.

Dann hat Johannes besonderen Wert darauf gelegt, dass die Soldaten um den Leibrock Jesu streiten, einen Leibrock ohne Naht von oben bis unten ganz durchgewebt. Dieser Leibrock hat eine symbolische Bedeutung. Er ist Jesus gleichsam auf den Leib geschnitten. Er symbolisiert Jesus, der von oben, vom Vater, ganz durchgewebt, ganz durchdrungen, ganz erfüllt ist. Im Leibrock gibt sich sich Jesus den Menschen hin, ganz, ungeteilt, ohne Vorbehalte. Er verschenkt das Geheimnis seines Leibes. Deswegen wurde der Leibrock in unserer Geschichte nicht zerstückelt. Die Erfahrung, dass sich Christus uns ganz geschenkt hat, ist für unsere Gemeinde sehr wichtig geworden.

Rainer Maria Schwenkman

Dann hat Bach die grosse Bedeutung dieser Szene in der Johannespassion also richtig erfasst. Deswegen hat er ihr viel Raum gegeben und sie besonders gestaltet. Ich glaube Bach hat auch noch etwas anderes Wesentliches erfasst:

Wir haben am Anfang dieses Abends gehört, dass der Jesus des Johannespassion in seinem Tod am Kreuz sein Werk vollendet und damit die Herrlichkeit Gottes sichtbar macht. Wenn wir die Herrlichkeit Gottes sehen und erleben, drängt es uns Gott zu lobpreisen. Das hat Bach erfasst: seine Johannespassion endet mit dem Satz: Ich will dich preisen ewiglich. Wer die Johannespassion hört, soll einstimmen in das Lob Gottes, dessen Herrlichkeit jetzt vollends sichtbar geworden ist. Die Passion ist also bereits ein österliches Ereignis. Im irdischen Jesus spricht und handelt bereits der erhöhte Herr, der Gekreuzigte ist zugleich der zu Gott Erhöhte, die Erniedrigung ist zugleich Verherrlichung Gottes. In der Johannespassion, in der biblischen und der musikalischen, wird deutlich, dass Karfreitag, Ostern und Pfingsten im Grunde ein einiges Ereignis sind, das aber in zeitlichen Abläufen entfaltet wird, weil es so für Menschen besser zu erfassen ist.

Erste Person von heute

Jetzt bekomme ich einen Zugang zu diesem Jesus der Johannespassion, der auf mich so fremd und übermenschlich gewirkt hat.

Bei Regula Strobel, einer feministischen Theologin aus der Schweiz habe ich vor kurzem einen merkwürdigen Satz gelesen, den ich jetzt besser verstehe. Er lautete:

Auf Golgota wurde ein Auferstandener gekreuzigt.

Hat das etwas mit dem zu tun, was die Johannespassion ausdrückt: dass die Passion schon ein österliches Ereignis ist? Ich denke ja.

Allerdings hat der Satz in der feministischen Theologie noch einen anderen Hintergrund. Es geht um eine kritische Auseinandersetzung mit der Vorstellung, dass es allein der Tod Jesu war, der für uns Menschen Heil und Leben mit sich bringt. Dass das Kreuz und ein Opfer notwendig waren dafür. Dabei verliert das irdische Leben Jesu an Bedeutung. Der Satz vom Auferstandenen, der auf Golgotha gekreuzigt wurde, drückt für mich aus, dass bereits im Leben Jesu und in den heilsamen Erfahrungen, die Menschen mit ihm machten, Auferstehung geschehen ist. Dass uns nicht nur ein Leben nach dem Tod verheissen ist, sondern auch eines vor dem Tod, ein Leben in Fülle, in dem die Herrlichkeit Gottes sichtbar wird.

Das entspricht auch der Botschaft des Johannesevangeliums denke ich.

Johanna von Bathyra

Ja, die Erfahrung vom Leben vor dem Tod, wie du es nennst, oder die Erfahrung, dass die Herrlichkeit Gottes in Jesus sichtbar wird, wie wir es ausgedrückt haben, meinen das Gleiche. Gottes Herrlichkeit hat für mich auch etwas mit der Würde von Menschen zu tun. Du hast in deiner ersten Frage an mich davon gesprochen, dass dir der Jesus, der auch in der Passion souverän bleibt, unverständlich und fremd ist.

Für mich drückt das aus, dass Jesus auch im Sterben, selbst als Opfer brutaler Macht seine Würde nicht verliert. Diese Würde kommt ihm von Gott zu, sie kann ihm niemand rauben. Ich glaube, dass diese Würde allen Menschen von Gott zukommt. Auch und gerade den Opfern von Gewalt. Unsere Welt war voll von Opfern. Sie war geprägt von Gewalt. Ich weiss nicht, ob sich das heute geändert hat. Wir in unserer Gemeinde glauben, dass Gewalt nicht das letzte Wort hat. Schon in der Szene der Gefangennahme Jesu haben wir erzählt, dass die, die ihn gefangen nehmen wollen, zu Boden stürzen. Nicht Jesu Würde steht auf dem Spiel, die Gewalttäter berauben sich selbst ihrer Menschenwürde, indem sie sich an Unschuldigen vergreifen. Sie können Jesus im Grunde nichts tun, ihre Schande fällt auf sie zurück. In der Würde Jesu in der Passionsgeschichte drückt sich unsere grosse Hoffnung aus: wie Jesus hat jeder Mensch die eigene, unzerstörbar Würde, die keine irdische Macht jemals zerstören kann.

Jetzt möchte ich aber auch gerne Fragen an die Christinnen und Christen von heute stellen:

Mich interessiert, wo ihr in eurem Leben und in eurer Gemeinde die Erfahrung macht, dass die Herrlichkeit Gottes sichtbar wird.

Mich interessiert, wie stark die Art unserer Gemeinde von Gleichgestellten und unsere Art der Christusmystik, eure Kirche geprägt hat.

Mich interessiert, wie ihr in der Welt steht und ob ihr auch wenn es Not tut, gegen die Welt und ihre Gesetze steht.

Mit diesen Anfragen an uns aus ferner und doch ganz naher Zeit beende ich dieses Gespräch und die Karwochenpredigt.

Ich lade Sie ein diese Anfragen mit in die Kar- und Ostertage zu nehmen. Sie zu bedenken, im Herzen zu erwägen und ihre Antworten darauf mit anderen zu teilen.

Wenn Sie mehr lesen wollen über das Johannesevangelium und die Passionsgeschichten der Bibel, habe ich Ihnen einige Materialien aus dem Katholischen Bibelwerk mitgebracht und hinten aufgelegt. Sie können sie dort anschauen und auf dem beigelegten Blatt bestellen.

Gesegnete Ostern wünsche ich uns allen. Vielen Dank für Ihre Gegenwart bei diesem Gespräch.

(Musik aus der Johannespassion von Bach)