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Kerstin Schiffner, Lukas liest Exodus. Eine Untersuchung zur Aufnahme ersttestamentlicher Befreiungsgeschichte im lukanischen Werk als Schrift-Lektüre   

Buch des Monats Januar 2010

Eine Dissertation als Buch für die Bibelpastoral zu empfehlen, ist heikel. Doktorarbeiten haben ihre eigenen Ziele, die Umsetzbarkeit in die Praxis steht nicht unbedingt an vorderster Stelle. Das hier besprochene Buch wurde 2006 als Dissertationsschrift von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum angenommen, und es ist auch kein bibelpastorales Praxisbuch. Allerdings steht im Zentrum dieses Buches die Bedeutung des Lesens von biblischen Texten – durch Lukas, durch andere biblische und ausserbiblische Texte und durch heutige Leserinnen und Leser. Es lädt ein, die eigene Bibellektüre als «weitere Lektüre einer Lektüre einer Lektüre» (50) zu verstehen. Darüber hinaus macht es Sinn, hin und wieder von der Praxis einen Schritt oder zwei zurückzutreten und so den eigenen Horizont und die eigenen Perspektiven zu weiten. Und auch dazu dient das Buch.
Kerstin Schiffner geht davon aus, dass das Lukasevangelium eine Relecture des Exodus-Motivs der Bibel ist. Und dass es viele weitere Exoduslektüren gibt: in der Bibel und ausserhalb. So zeichnet sie in ihrem zweiten Hauptteil die biblische Befreiungsgeschichte von Ex 1 bis Jos 24 nach – dabei arbeitet sie besonders die Bedeutung der Prophetin Mirjam heraus – und analysiert kurz eine innerbiblische Relecture im Buch Judit. Ausführlicher stellt sie ausserbiblische Exoduslektüren vor, im Jubiläenbuch, im Liber Antiquitatum Biblicarum, das fäschlicherweise Philo von Alexandrien zugeschrieben wurde und heute als Pseudo-Philo bezeichnet wird, und bei Flavius Josephus. Sie beleuchtet damit das zeitgeschichtliche jüdische Umfeld des Lukasevangeliums.
Der erste, dritte und vierte Hauptteil widmen sich dann dem lukanischen Doppelwerk, also dem Evangelium und der Apostelgeschichte. Im ersten Teil führt sie in zentrale Begriffe ihrer Methode ein: Intertextualität. Interfiguralität, Lesen als Typologie oder Midrasch, Lesen als hermeneutische Schlüsselqualifikation und als produktiv-kreatives Tun. In der Emmauserzählung von Lk 24 sieht sie die hermeneutische Schlüsselstelle des gesamten lukanischen Doppelwerks. Dort lernen die beiden Jünger unter Anleitung Jesu ihre Erfahrungen «ausgehend von der Schrift und den Propheten» neu zu lesen und zu deuten. Was hier verdichtet erzählt wird, ist im ganzen Text des Doppelwerks mitzulesen.
Im dritten Hauptteil dann entschlüsselt Schiffner Einzelverbindungen zwischen der Exoduserzählung Ex 1-Jos 24 und Lk-Apg. Es handelt sich um Personen und Orte, Vorstellungen von Gott und um einzelne Erzählmotive wie Sturmstillung und Schilfmeer oder Speisungen. Besonders interessant dabei ist ihre Untersuchung über die Namensgebung in der Antike. Im Zentrum ihrer Analyse steht die Verbindung zwischen Mirjam, der Prophetin des Exodus und Maria, der Mutter Jesu. In ihrem Resumee formuliert sie den Zusammenhang so: «Die lukanische Mirjam – eine Prophetin, die ihrem Namen gerecht wird» (S. 295). In Jesu Predigt in der Synagoge von Nazaret, Lk 4,16-30, erkennt sie ein Exodusprogramm und in der Rede vom Satan eine Auseinandersetzung mit Gegenspielern der Befreiung.
Schliesslich liest sie im vierten Hauptteil die Stephanusrede der Apostelgeschichte (Apg 7,2-53) als Sonderfall der lukanischen Exoduslektüre, in der die Verbindung zwischen Mose und Jesus im Zentrum steht.
Ein umfassendes Literaturverzeichnis und Bibelstellenregister schliessen die Arbeit ab. Das ausführliche Inhaltsverzeichnis eignet sich hervorragend dafür, einzelnen Fragestellungen nachzugehen.
Man kann dem Buch von Kerstin Schiffner vielleicht vorwerfen, dass es sich einseitig auf die Exodus-Motive im lukanischen Werk konzentriert und andere Schriftlektüren nicht thematisiert (Lukas als Relecture der Elija- und Elischaerzählungen, Erzelternmotive, prophetische Motive...). Lukas liest nämlich nicht nur Exodus, sondern die ganze Heilige Schrift. Das würde Frau Schiffner vermutlich auch nicht in Abrede stellen, denn ihr intertextueller und interfiguraler Ansatz ist mit ihren eigenen Ergebnissen keineswegs ausgeschöpft. Die Konzentration auf ein – wesentliches – Motiv führt aber dazu, dass wirklich eine Fülle von Zusammenhängen erschlossen wird, die dazu auch noch in einer inhaltlichen Verbindung zueinander stehen. Im Nachklang der Advents- und Weihnachtszeit sei folgender Satz zitiert: «So wie in Ex 15 zunächst Einzelne singen und dann die Frauen und Männer des Volkes Israel in den Jubel einstimmen, so fügen sich in Lk 1-2 die Stimmen Marias, Zacharias’, der Engel und Simeons zusammen zu einem Chor, der die Leserinnen und Leser ebenfalls dazu einlädt, einzufallen in den jubelnden Dank an Israels Gott» (396).
Kerstin Schiffners Buch weitet den Horizont und die Perspektiven für das Verständnis alt- und neutestamentlicher Texte. Auch für die Bibelpastoral. Sie führt hermeneutisch fundiert in das intertextuelle Bibellesen ein, das in Form der kanonischen Bibelauslegung zunehmend bekannt und praktiziert wird. Dabei stellt sie heraus, dass die Verwendung von Typologien (z. B. Jesus als neuer Mose) nicht als Überbietung zu verstehen ist, sondern als Teilhabe an einer bewährten Figur und ihrer Autorität. Schiffner erschliesst eine Fülle von Zusammenhängen und macht dadurch das innerbiblische Netzwerk bzw. das intensive innerbiblische Gespräch zwischen Texten anschaulich und erfahrbar. Sie stellt das lukanische Doppelwerk in den zeitgenössischen Kontext anderer jüdischer Bibellektüren und macht deutlich, wie stark die lukanische Auseinandersetzung eine innerjüdische Auseinandersetzung ist. So trägt sie bei zur Korrektur des Bildes von Lukas als einem heidenchristlichen Autor.
Sicherlich ist die Lektüre dieses Buches (wie die der meisten Dissertationen) keine einfache Aufgabe. Das detaillierte Inhaltsverzeichnis und das umfassende Bibelstellenregister erleichtern den Zugang aber sehr. Und eine lohnende Aufgabe ist die Lektüre dieses Buches allemal.

Peter Zürn

Kerstin Schiffner, Lukas liest Exodus. Eine Untersuchung zur Aufnahme ersttestamentlicher Befreiungsgeschichte im lukanischen Werk als Schrift-Lektüre (Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament Bd. 172), Kohlhammer Verlag Stuttgart 2008, Kt., 467 S., 45,00 € [D] / 46,30 € [A] / 75,90 CHF UVP; ISBN 978-3-17-019732-9

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