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Wolfgang Fritzen, Von Gott verlassen?   

Buch des Monats April 2009

Es ist ein in mehrfacher Hinsicht sehr spezielles Buch, das ich hier vorstellen möchte:

1. Es ist eine Dissertation, die bei allem Anspruch noch lesbar und vor allem auch bibelpastoral relevant ist.
2. Es ist ein Kommentar zum Markusevangelium, auch wenn es nicht als solcher daherkommt.
3. Es ist ein zutiefst existentielles Buch, das gerade in der Zeit um Karfreitag und Ostern dazu einladen kann, (wieder) einmal grundsätzlich über das Geheimnis von Tod und Leben, von Ferne und Nähe Gottes nachzudenken.

Wolfgang Fritzen (Johannes Gutenberg-Universität Mainz) liest und interpretiert das Markusevangelium. Er tut dies, indem er es konsequent als Erzählung liest. Ein solches Lesen der Bibel als Literatur wie andere Weltliteratur auch war lange Zeit verpönt. Und es ist noch nicht so lange her, dass sich auch Exegeten Anregungen von der Literaturwissenschaft geholt haben. Vf. hat deshalb seinem Werk neben einer Einführung (S. 13-17) ein umfangreiches Kapitel vorangestellt, in dem es um «Grundlegungen (Gegenstand und Methode)» (S. 19-105) geht. Dieses bei aller Lesbarkeit doch auch anspruchsvolle Kapitel führt nicht nur ein in das Thema des «Markusevangeliums als Erzählung», sondern ist gleichzeitig eine hervorragende Einführung in heutiges exegetisches Arbeiten, ohne dass dabei die Auslegungsgeschichte zu kurz käme. In geradezu salomonischer Art und Weise vermittelt Vf. hier zwischen den traditionellen historisch-kritischen Zugängen und ihrer meist diachronen Sichtweise und einer synchronen Endtextexegese. Er kann gut zeigen, worin die Vorteile der jeweiligen Ansätze liegen und nützt das Methodenrepertoire beider Zugänge souverän.
Die beiden folgenden Kapitel (S. 107-262) sind dann der erzählkommunikativen Anlage des Markusevangeliums gewidmet. Das Kommunikationsangebot, welches das Markusevangelium seinen Leserinnen und Lesern machen will, kreist um die zentrale Frage, die mit Jesu Ruf am Kreuz gestellt ist: «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?» Nach Meinung des Vf.s, will der gesamte Markus-Text genau darauf eine Antwort sein. Eine solche Antwort ist natürlich dadurch motiviert, dass diese Frage für die Leserinnen und Leser, für die der Evangelist schrieb, höchst brisant war: Sind die im Jüdischen Krieg bedrängten Christen von Jesus und seinem Vater verlassen? Und: Wie kann man in einer solchen Situation überhaupt angemessen von Gott reden?
Im Markusevangelium wird eine Rede von der Verborgenheit Gottes, seines Sohnes und seines Reiches entwickelt, die die Leserinnen und Leser zu einer vertieften Wahrnehmung bewegen will: Was traditionell als «Messiasgeheimnis» verhandelt wurde, wird im vierten Kapitel entfaltet. Die Jünger, die auch in ihrem durchgehenden «Unverständnis» als Identifikationsangebote fungiert haben, provozieren dadurch natürlich auch die Leserinnen und Leser: Wo finden sie sich in der Erzählung? Letztlich aber will die Markuserzählung einladen zum «Abenteuer des Verstehens, Glaubens und Nachfolgens» (S. 243).
Im fünften Kapitel (S.263-321) geht Vf. den Textstrukturen nach, durch welche die Leserinnen und Leser des Evangeliums auf ihrem Weg zu tieferer Einsicht in die Verborgenheit Gottes bewegt werden. Zusammen mit den Jüngern geht der Weg über das undeutliche Sehen am Ende des 1. Hauptteils des Evangeliums zum deutliche(re)n Sehen am Ende des 2. Hauptteils, der auch die Leidensankündigungen enthält. Für die (männlichen) Jünger endet dieser Weg dann allerdings in der Finsternis ihres Versagens in Getsemani.
Das sechste Kapitel ist dann dem Höhepunkt der Erzählkommunikation gewidmet: «Jesus am Kreuz und der verborgene Gott». In einer theologischen Auslegung der Kreuzigungserzählung fragt Vf.: Bedeutet die Finsternis Abwendung oder Zuwendung Gottes? Sind Jesu letzte Worte als Verzweiflungsschrei oder als Vertrauensäusserung zu deuten? Ist das Zerreissen des Tempelvorhangs ein unheilvolles Vorzeichen oder ein Zeichen des Heils? Ist Jesus am Kreuz tatsächlich von Gott verlassen? Auch hier zeigt sich, dass es sich um eine Frage der Wahrnehmung handelt.
Das Abschlusskapitel (S. 361- 393) schliesslich bringt das Markusevangelium in seinem ursprünglichen Kontext zusammen mit der Frage, wie heutige Leser das Kommunikationsangebot dieses alten Textes aufgreifen können. Die Zumutung des Markusevangeliums, nämlich seine klare Provokation einer Antwort auf die Verborgenheit Gottes, erweist höchste theologische Aktualität: «Die Leser und Hörer des Markusevangeliums sind herausgefordert, in der Nacht der Verborgenheit Gottes Gott zu suchen und auf ihn zu vertrauen, auch wenn sein Wirken auf sich warten lässt oder kaum mehr wahrnehmbar ist. (...) Ein solcher Weg ... kann ... zweifellos zu einem mühevollen Weg werden. Doch wer sich auf ihm müht, darf ... hoffen: Jesus geht uns voraus und begleitet uns und schenkt uns ... die Erfahrung seiner verborgenen Nähe. Die Freude hierüber ist das Geheimnis des christlichen Weges» (S. 393).
Ich habe diesem Buch eine Unmenge an Anregungen, an Nachdenkenswertem, aber auch zu Widerspruch Reizendem entnommen. Gefreut habe ich mich über die sehr einfühlsame Einführung in die «Menschensohn»-Thematik und überhaupt das (sonst eher selten anzutreffende) Ernstnehmen der Apokalyptik für das Verständnis der Spannung zwischen Epiphanie und Verborgenheit Gottes im Markusevangelium. Das schlösse für mich allerdings nicht aus, dass die Gottesherrschaft für Jesus und mit ihm «da ist» (Mk 1,15; gegen das traditionelle Verständnis, das vom «Nahegekommensein» spricht). Und dass der Hauptmann unter dem Kreuz kein vollgültiges Bekenntnis zum Gottessohn abgelegt haben soll (S. 206 u. ö.), hat mir überhaupt nicht eingeleuchtet. Aber all diese Bemerkungen schmälern in gar keiner Weise die Bedeutung dieses höchst anregenden Buches, das ich sicher noch oft zur Hand nehmen werde.
Dieter Bauer

Wolfgang Fritzen, Von Gott verlassen? Das Markusevangelium als Kommunikationsangebot für bedrängte Christen, (Verlag W. Kohlhammer) Stuttgart 2008, 432 S., Kt., € 39.00 [D] / € 40,10 [A] / CHF 65,90 UVP
ISBN 978-3-17-020160-6

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