Wir bringen die Bibel ins Gespräch

Demokratie in der Urkirche? Streit in der Gemeinde von Jerusalem   

Dieter Bauer, entdecken: apostelgeschichte. Lese- und Arbeitsbuch zur Bibel 2005, S. 44-53

Die Ausländer in der Gemeinde waren «stinksauer». So berichtet uns Lukas im zweiten Band seines Evangeliums, der Apostelgeschichte: «In diesen Tagen, als die Zahl der Jünger zunahm, begehrten die Hellenisten gegen die Hebräer auf», und er nennt auch gleich den Grund der Aufregung: «weil ihre Witwen bei der täglichen Versorgung übersehen wurden» (Apg 6,1). Was war passiert?

Soziale Probleme in der Gemeinde

Schon sehr früh waren auch «Ausländer» zur Jerusalemer Gemeinde gestossen. Sie sprachen kein Hebräisch, sondern nur die Weltsprache des damaligen Ostens Griechisch (deshalb: «Hellenisten»). Das Sprachproblem scheint – folgt man der Apostelgeschichte – sehr bald schon zu einem sozialen Problem geworden zu sein. Die Ausländer, die keine grosse Verwandtschaft im Hintergrund hatten, konnten schnell zum Sozialfall werden – eine Vorstellung, die ja im übrigen noch heute bei manchen Ängste und Ausländerfeindschaft auslöst. Nur: In einer christlichen Gemeinde sollte man so etwas wohl nicht unbedingt erwarten. Und doch: Gerade die Schwächsten, die Frauen, die ihre Männer und damit ihre Versorgung verloren hatten und jetzt der Gemeinde «zur Last fielen», scheinen von den Einheimischen «übersehen» worden zu sein. Das gab den erwähnten «Aufstand». So weit, so schlecht. Wie nun reagierte die Gemeindeleitung, «die Zwölf» (Apostel), auf dieses Problem?

Eine Leitung, die delegieren kann

«Da riefen die Zwölf die ganze Schar der Jünger zusammen». Es gibt also eine Gemeindeversammlung aller «Jüngerinnen und Jünger», was soviel heisst, dass die Apostel den Protest der «Ausländer» nicht mit einem Machtwort zu beenden gedenken und auch nicht allein als ihr eigenes Problem ansehen. Sie erklären vielmehr, dass sie diese Aufgabe nicht auch noch übernehmen können: «Es ist nicht recht, dass wir das Wort Gottes vernachlässigen und uns dem Dienst an den Tischen widmen.» Und als Lösung schlagen sie vor: «Brüder, wählt aus eurer Mitte sieben Männer von gutem Ruf und voll Geist und Weisheit; ihnen werden wir diese Aufgabe übertragen. Der Vorschlag fand den Beifall der ganzen Gemeinde, und sie wählten Stephanus, einen Mann, erfüllt vom Glauben und vom Heiligen Geist, ferner Philippus und Prochorus, Nikanor und Timon, Parmenas und Nikolaus, einen Proselyten aus Antiochia. Sie liessen sie vor die Apostel hintreten, und diese beteten und legten ihnen die Hände auf» (6,3-6).

Überrascht stellt man fest, dass die Gewählten allesamt «Ausländer» waren. Das sieht man an den griechischen Namen und an ihrer Herkunft. Das bedeutet dann aber doch, dass die Gemeindeleitung einen Teil ihrer Verantwortung abgegeben und an die Betroffenen selbst delegiert hat. Und sie hat die Verantwortlichen nicht von oben bestimmt, sondern hat die Wahl in der betroffenen Gemeinde selbst angeregt und dann bestätigt. Wenn das kein demokratisches Verfahren ist!

Modell für Kirche heute?

Das Hauptanliegen des Lukas damals war es, seiner Gemeinde in Rückbindung an die Jesusüberlieferung zu zeigen, wie Gemeinde sein könnte und sein sollte. Insofern hat er auch uns heute einiges zu sagen.

Bei heutigen Konflikten in der Kirche ist ja leider auch oft die erste Reaktion ein Gang zur Gemeindeleitung oder gar ein «Schreiben nach Rom». Richtig ist: Der Kirchenleitung können diese Konflikte nicht egal sein. Was aber bedeutet es, wenn Lukas schreibt, dass die Zwölf «die Schar der Jünger zusammenriefen»? Doch wohl, dass Streit, der in der Gemeinde ein öffentliches Ärgernis ist, auch öffentlich wieder beigelegt werden sollte. Dass es nicht nur Sache der Leitung ist, Streit zu schlichten, sondern auch Sache der betroffenen Gemeinde. Hier geht es um Mitverantwortung: Dafür, dass Streit entstanden ist, und ebenso dafür, dass er auch wieder ehrlich und fair behoben wird. Dabei scheinen mir drei Dinge besonders wichtig:

1. Es ist keinem gedient, wenn lange an der Schuldfrage «herumgedoktert» und irgend jemand als schwarzes Schaf hingestellt wird. Es gibt zwar immer Leute, die ihr Interesse daran haben, dass «schmutzige Wäsche gewaschen «»œ wird. Aber das dient der Sache nicht. Die «Zwölf» haben sich damit gar nicht erst aufgehalten, sondern haben die «Murrenden» ernst genommen und gemeinsam (!) nach einer Lösung gesucht.
2. Oft sind es die bestehenden Strukturen, die sich in einer neuen Situation als hinderlich erweisen. Dann ist es nicht damit getan, die Situation den Strukturen anzupassen. Beim beschriebenen Problem der Urgemeinde wäre beispielsweise auch denkbar gewesen, dass die Zwölf sich bereit erklärt hätten, wie erwartet (!) die Armenversorgung auch noch zu übernehmen. Die «Zwölf» haben sich diesem Erwartungsdruck aber nicht gebeugt, sondern klar darauf hingewiesen, dass eine Überlastung letztlich niemandem dient. Kompetenzen muss man auch abtreten können, wenn die Situation es erfordert. Dabei können sich auch Strukturveränderungen als notwendig erweisen ...
3. Die Sieben kommen aus der Gemeinde und werden von der Gemeinde ausgewählt. Das heisst, dass das Problem da gelöst wird, wo es entstanden ist und die entsprechende Sachkenntnis vorauszusetzen ist. Nur so werden Menschen gefunden, die tatsächlich bereit sind, sich für ihre Sache, für ihre Gemeinde einzusetzen. «Guter Ruf» und «Geist und Weisheit» befähigen sie, Mitverantwortung zu übernehmen, jede/r einzelne nach seinen/ihren Fähigkeiten.

Keine Angst vor Konflikten!

Wenn Streit und Konflikte in der Kirche auch nichts Schönes sind, so können sie doch viel Positives bewirken. Wenn der erste Unwille über die «Störer des Kirchenfriedens» verraucht ist, wird bei ehrlichem Hinschauen doch bald hinter der Kritik ein wirkliches Interesse an eben dieser kritisierten Kirche sichtbar werden. Für mich wäre es eine Horrorvorstellung, wenn unsere Kirche einmal nicht einmal mehr kritikwürdig wäre. Wer kritisiert, ist dann freilich auch zur Mitarbeit und Mitgestaltung aufgerufen! Das kann zu ganz neuen Ideen führen und verschüttete Kräfte freilegen. Und dann kann geschehen, was Lukas als Abschluss seiner kleinen Erzählung formuliert: «Und das Wort Gottes breitete sich aus, und die Zahl der Jünger in Jerusalem wurde immer grösser; auch eine grosse Anzahl von den Priestern nahm gehorsam den Glauben an.» (6,7)

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