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Otmar Keel / Silvia Schroer, Eva – Mutter alles Lebendigen   

Buch des Monats Januar 2005

Kennen Sie das auch? Sie stehen im Museum vor einer Vitrine, in der Figürchen ausgestellt sind, die offensichtlich weiblich sind. Auf der zugehörigen Beschriftung heisst es dann «Weibliche Figur». Das hatten Sie sich eigentlich selbst auch schon gedacht.Wer wissen möchte, warum das gar nicht so einfach ist mit der Bezeichnung von Frauen- und Göttinnenfigürchen, Amuletten, weiblichen Motiven auf Roll- und Stempelsiegeln oder Münzen, der muss zum vorliegenden Buch greifen.
In «Eva – Mutter alles Lebendigen» haben Otmar Keel und Silvia Schroer in akribischer Kleinarbeit 240 solcher Objekte aus dem Alten Orient – überwiegend aus der Sammlung des Museums «Bibel+Orient» in Fribourg – vorgestellt und beschrieben. Zwei umfangreiche Prologe von Silvia Schroer informieren über die Entwicklung der Frauen- und Göttinnenidole aus dem Alten Orient innerhalb eines Zeitraums von der Jungsteinzeit bis in die frühbyzantinische Zeit, also über 10 Jahrtausende. Man sieht aber auch, wie die Archäologie über viele Jahrhunderte – zeitgeschichtlich bedingt – ihre liebe Mühe hatte mit der Einordnung weiblicher Nacktheit: Waren das nun Göttinnen, Priesterinnen oder ganz normale Frauen, die dargestellt wurden? Und es wird nicht verschwiegen, dass auch die feministische Forschung manchmal ihre Mühe hat: Geht es hier um Powerfrauen, oder ist es schlichte Pornographie? Sind dies göttliche Vorbilder für starke Frauen oder Projektionen des männlichen Blicks? Die Übergänge scheinen oft fliessend. Und nimmt man religiöse und poetische Sprache wirklich ernst, dann sind sie es heute noch: profane Frauen begegnen noch heute als «Göttinnen (des Films)» etwa oder als Idole.Interessant ist auch, wie sich über die Jahrtausende eine gewisse Kontinuität in den Darstellungstypen und Konstellationen zeigen lässt. Und doch gibt es – bedingt durch zeitgeschichtliche Entwicklungen – «Ausfälle» bestimmter Typen oder Schwerpunktsetzungen, etwa des kämpferischen Aspekts in Kriegszeiten. Dass sich das Thema nicht nur in der Ikonographie des Alten Orients aufzeigen lässt, sondern durchaus auch an der Entwicklung des Marienbildes im christlichen Kontext, zeigt Otmar Keel in seinem Epilog.Das aufwändig gestaltete und reich bebilderte Werk ist eine Fundgrube für jeden an Bibel und Altem Orient Interessierten. Den Forschenden ist eine wichtige Dokumentation an die Hand gegeben. Aber das schöne Buch lädt auch einfach ein zum Schmökern und Geniessen.

Otmar Keel / Silvia Schroer, Eva – Mutter alles Lebendigen. Frauen- und Göttinnenidole aus dem Alten Orient, Academic Press Fribourg 2004, 288 S., zahlr. vierfarbig illustriert, 36,00 € [D] / 55,00 sFr; ISBN 3-7278-1460-8

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