Wir beraten

«Damit sich die Schrift erfüllt …». Die Sonntagsevangelien als jüdische Texte lesen.   

Buch des Monats

Schweizerisches Katholisches Bibelwerk (Hrsg.), Lesejahr B, Freiburg (Schweiz): Paulusverlag 2017; Hardcover CHF 41.50; ISBN: 978-3-7228-0907-6

Dr. Markus Lau (Diözesanverband Deutschfreiburg) 

Als ich vor Jahren mein Theologiestudium begann, da galt es als nahezu ausgemacht, dass das Markusevangelium sich primär an ein nichtjüdisches Publikum von Jesusanhängern richtet und die mk Gemeinde zwar auch einige Jüdinnen und Juden in ihren Reihen hatte, aber doch mehrheitlich aus so genannten «Heidenchristen» bestand. Das ist bald zwanzig Jahre her und seitdem ist in der Exegese des Markusevangeliums einiges passiert. Nicht nur, dass man heute Begriffe wie «Judenchristen» und «Heidenchristen» nur noch mit einiger Vorsicht und zu Rückhaltung verwenden würde, weil sie viel zu grob sind, um die diffizilen Feinheiten im Blick auf Gruppenbeschreibungen – etwa den Unterschied zwischen Selbstverständnis und äusserer Wahrnehmung – treffend zu beschreiben; auch die Wahrnehmung der Jesusgeschichte des Markus hat sich verändert. Zugespitzt formuliert: Das Markusevangelium wird heute, wenn mich nicht alles täuscht, sehr viel stärker als jüdischer Text gelesen, der jüdische Traditionen und Texte in Form von Zitation und Anspielung verwendet, um seine Jesusgeschichte zu erzählen und bei seinen Leserinnen und Lesern eine Kenntnis dieser Traditionen auch voraussetzt. Diese neue, besser: geweitete Wahrnehmung des mk Textes bestreitet freilich die Verwurzelung des Textes in der nichtjüdischen, vor allem griechisch-römischen Kultur der Antike nicht. Das Markusevangelium erscheint insofern als ein Text mit geradezu doppeltem Boden, der aus der Perspektive unterschiedlicher kultureller Welten sinnvoll gelesen und verstanden werden kann.
Speziell mit der jüdischen Perspektive der mk Texte beschäftigen sich die Beiträge des Bandes «Damit sich die Schrift erfüllt …». Das Buch nimmt die Sonntagsevangelien der Leseordnung B des katholischen Kirchenjahres in den Blick, d. h. die an den Sonntagen vom Ersten Advent bis zum Christkönigsonntag des Folgejahres in der katholischen Liturgie als Evangelien verkündeten Texte. Und das sind im Lesejahr B primär Texte aus der ältesten Jesusgeschichte des Neuen Testaments, dem Markusevangelium. Hinzu kommen freilich auch jene in der Leseordnung vorgesehenen Texte aus den übrigen drei Evangelien. Alle Texte werden nach der neuen Einheitsübersetzung (2016) zitiert, die jeweils auch mitabgedruckt wird. Damit ist der Band der Aktualisierung der liturgischen Bücher (Lektionare) angesichts der neuen Einheitsübersetzung, die zukünftig auch in katholischen Gottesdiensten vorgelesen wird, sogar einen Schritt voraus.
Die Beiträge verstehen sich als engagierte Auseinandersetzungen mit diesen neutestamentlichen Texten, die bewusst unter einer spezifischen Perspektive, eben der Wahrnehmung als in einem weiten Sinne jüdische Texte, vorgestellt werden. Konkret erfolgt dies nach dem Abdruck des jeweiligen Textes (und einer in der Regel sehr zum Lesen anregenden Überschrift zum Beitrag) in einem Zweischritt, der zuweilen in umgekehrter Reihenfolge geboten wird (von allzu strengen Vereinheitlichungen hat der Redaktionskreis offenkundig Abstand genommen):

1. Was in den Schriften geschrieben steht
Ausgangspunkt sind hier Überlegungen zu dem, was man heute in der Regel mit «Intertextualität» bezeichnet. Es geht also um Verweise in den Evangelientexten auf andere Texte aus der jüdischen Tradition (Erstes Testament, jüdische Traditionsliteratur). Diese können in Form von Zitaten oder mehr oder weniger deutlichen Anspielungen innerhalb der Evangelientexte erfolgen. Besonders spannend ist dabei natürlich immer, wie der jüngere Text, also der Evangelientext, mit den jeweiligen «Prätexten» umgeht, wie er sie aktualisiert.

2. Mit Markus/Matthäus/Lukas oder Johannes im Gespräch
In einem weiteren Schritt wird ein je nach Wahrnehmung des Autors besonders zentraler Aspekt des Evangelientextes, der vor dem Hintergrund der jüdischen Traditionen auffällig ist, näher in den Blick genommen und dabei zuweilen auch Brücken bis in die Gegenwart geschlagen. So wird die Aktualität der Evangelientexte herausgestrichen und ihre Bedeutung für Gegenwartsfragen in Gesellschaft und Kirche deutlich – dies freilich immer in kritischer Reflexion, die einer allzu einfachen Übertragung antiker Texte und ihrer Logiken (die Evangelien sind ja Texte des 1. Jh. unserer Zeitrechnung) in die Gegenwart einen Riegel vorschiebt.
Eröffnet wird der Band nach einigen Vorbemerkungen zum Aufbau und zum Anliegen des Buches mit einer Einführung in das Markusevangelium aus der Feder einer jüdischen Rabbinerin (Annette Böckler), die die spannende Frage stellt, ob das Markusevangelium aus der Sicht des heutigen Judentums überhaupt als jüdischer Text angesprochen werden kann und was ganz generell einen Text zu einem «jüdischen» Text macht. Die Lektüre dieser Hinführung ist hilfreich, weil sie von mancherlei Verzerrungen in der Wahrnehmung von Judentum befreit und zu einem echten Dialog, durchaus auch kritischen Dialog zwischen den Religionen und Religionsgemeinschaften einlädt.
Dem Redaktionskreis und den elf Autorinnen und Autoren ist für die Erstellung eines anregenden Buches zu danken, das für die Predigtvorbereitung, in der Bibelgesprächsgruppe oder einfach auch als Lesebegleiter für die private Lektüre der Sonntagsevangelien sehr zu empfehlen ist.

 

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