Wir beraten

Zwischen dem Kaiser und Onesimus gibt es keinen Unterschied!   

Peter Zürn zur Lesung am 23. Sonntag im Jahreskreis (08.09.): Phlm 9b–10.12–14, SKZ 33-34/2013

 

Bei keinem anderen Lesungstext ist es so einfach, ihn im Kontext des gesamten biblischen Buches vorzulesen.1 Der Brief an Philemon umfasst insgesamt nur 25 Verse. Lesen Sie ihn doch komplett, und nehmen Sie ihn als Leittext des Gottesdienstes.2 Daraus lassen sich weitreichende Leitlinien für Kirche und Gesellschaft entwickeln.

Der Brief im jüdischen und griechischrömischen Kontext seiner Zeit

Der Philemonbrief wendet sich an eine einzelne Person, eben Philemon. Er ist insofern etwas Privates. Gleichzeitig wird keine Privatangelegenheit verhandelt, sondern etwas, das eine Gemeinde betrifft. So adressiert Paulus den Brief nicht nur an Philemon, sondern auch an Aphia und Archippus und an die Gemeinde im Haus des Philemon. Neben Paulus wird auch Timotheus als Absender genannt, und am Ende des Briefes werden Grüsse an Epaphras, Markus, Aristarch, Demas und Lukas bestellt. Paulus sorgt also für Öffentlichkeit. Die privaten Beziehungen dienen der Gemeinde als Spiegel und Modell. Das steht in guter biblischer Tradition. Die Erzählungen von Einzelpersonen, Paarbeziehungen, Familienbeziehungen sind immer Erzählungen für eine grössere Gemeinschaft, Volksgeschichten. Insofern ist die Aufnahme dieses Privatbriefes in den Kanon der Kirche gerechtfertigt. Nach der Nennung von Absender und Adressaten schliesst Paulus den für ihn typischen Gruss an, der sich an jüdische Konventionen anlehnt: «Gnade sei euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus.» Dahinter steht das hebräische «Schalom alechem».

Die Verse 4–7 sind ein Gebet, das stilistisch ganz im Gebetsstil der Psalmen gehalten ist. Der Brief ist wie gesehen an die Gemeinde im Haus des Philemon gerichtet. Das Privathaus als Lebensort der Grossfamilie war in der Antike lange vor dem Christentum auch erster und wichtigster Ort des Religiösen. «Hier sind Altar, hier sind Herd und Familiengötter, sind Heiligtum, Gottesdienst und jeglicher Kult vereint», schreibt Cicero. Eine Ausstellung im Historischen Museum der Stadt Baden (AG )3 mit ihrer römischen Vergangenheit hat die Bedeutung der häuslichen Frömmigkeit vor kurzem eindrucksvoll bestätigt. Aber auch im Judentum besassen Haus und Familie von jeher eine wichtige religiöse Aufgabe. Sie sind Ort der religiösen Erziehung; hier werden Tagesablauf und Mahlzeiten von Gebeten begleitet; hier werden die grossen Jahresfeste gefeiert. Die Gemeinde im Haus des Philemon dürfte sich von anderen «jüdischen Haussynagogen und von griechisch-römischen Hauskulten kaum unterschieden haben. Man kam in Privathäusern zusammen, feierte kultische Handlungen und ass zusammen, besprach den Alltag und versicherte sich der gemeinsamen Solidarität».4

In den zentralen Passagen des Philemonbriefes – dem Auszug der Leseordnung – setzt sich Paulus für Onesimus ein. Onesimus, übersetzt heisst dieser sprechende Name «der Nützliche», ist ein Sklave des Philemon, der zu Paulus nach Ephesus geflohen ist. Da die Sklaverei die Grundlage der römischen Gesellschaftsordnung und Wirtschaft darstellt, verfolgte und bestrafte die Sklavenhaltergesellschaft flüchtige Sklavinnen und Sklaven aufs Schärfste. Trotzdem gibt es auch Beispiele dafür, dass sich römische Eliten für Sklaven einsetzten. So kennen wir z. B. einen Brief des Redners und Schriftstellers Plinius des Jüngern (gest. um 115 n. u. Z .), der sich 50 Jahre nach Paulus für einen Sklaven einsetzt und deswegen an dessen Herrn schreibt. Einige Sätze aus diesem Brief sollen hier zitiert werden, weil sie im Vergleich zum Philemonbrief dessen Besonderheit deutlich machen. Plinius berichtet von dem Sklaven: «Lange weinte er, bettelte lange, schwieg auch lange, kurz, ich gewann den Eindruck, dass er bereut. Er hat sich wirklich gebessert, weil er fühlt, dass er sich vergangen hat. Du bist wütend, ich weiss, und mit Recht, auch das weiss ich; aber gerade dann verdient Nachsicht besonderes Lob, wenn man wohlbegründeten Anlass zum Zorn hat.»5 Die Argumentation des Plinius ist also die: Der Sklave bereut, er hat sich gebessert, also soll der Herr nachsichtig sein und Gnade vor Recht ergehen lassen. Am absoluten Verfügungsrecht des Herrn über seinen Besitz, den Sklaven, wird nicht gerüttelt. Der Herr soll nur für einmal darauf verzichten. Herr und Knecht bleiben sauber getrennt, das System der Ungleichheit wird nicht angetastet. Ganz anders Paulus: Alle in den jesuanischen Gemeinden sind Teil eines Volkes, des Volkes Gottes. Sie sind Heilige und Brüder – die Schwestern sind leider nur mitgemeint, wir bleiben Paulus nur treu, wenn wir sie ergänzen. Onesimus ist zum Bruder des Paulus geworden, also ist er auch der Bruder des Philemon, seines Herrn. Er ist «nicht mehr Sklave, sondern weit mehr als ein Sklave: ein geliebter Bruder» (Vers 16). Die Liebe, die alle in den Gemeinden untereinander verbindet, verbindet auch Onesimus und Philemon. Insofern macht Paulus hier am konkreten Beispiel deutlich, was er im Brief an die Gemeinden in Galatien programmatisch formuliert: «Es gibt nicht mehr Sklaven und Freie» (Gal 3,28). Das System der Sklaverei ist für eine Gemeinde in der Tradition der Tora, in der Nachfolge des Messias Jesus und in der Beziehung zum Gott des Exodus aufgehoben, ja grundsätzlich irrelevant. Bei aller Klarheit, mit der Paulus davon spricht, so tritt er doch dem Philemon nicht von oben herab gegenüber, sondern bittet ihn, denn «ohne deinen Willen wollte ich nichts tun, damit dein Gutes nicht wie gezwungen, sondern freiwillig sei» (Vers 14).

Heute mit dem Philemonbrief im Gespräch

Zwischen den Menschen der Antike und uns heutigen liegen Welten. So vieles hat sich verändert. Allerdings nicht, was die Sklaverei angeht. Sklaverei ist ein Phänomen unserer Gegenwart. Millionen Menschen sind davon betroffen. Sie sind uns bekannt, die Opfer der Kinderarbeit, die Billigstarbeiterinnen in der Textil- und Computerproduktion, die Haushaltssklavinnen und Arbeitssklaven und die zur Prostitution gezwungenen Frauen. Die schweizerischen Hilfswerke «Brot für alle» und «Fastenopfer » haben sich in einer gemeinsamen Aktion 2007 für ihre Rechte eingesetzt und mit entsprechenden Spielzeugpuppen Aufsehen erregt. Das muss fortgesetzt werden. Aber auch in unseren eigenen Gemeinden sind wir herausgefordert von dem Grundsatz, den Onesimus in einem Sprechstück im Praxisteil von Bibel heute 177 formuliert: «Zwischen dem Kaiser von Rom und dem Sklaven Onesimus gibt es keinen Unterschied!» Eine gute Leitlinie für anstehende kirchliche und gesellschaftliche Entscheidungen.