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Zum Kompendium der Gleichnisse Jesu (2007)   

Auszug aus WerkstattBibel Band 16. Kapitel 3

Was sind eigentlich Gleichnisse?

Es herrscht in der Bibelwissenschaft keineswegs Einigkeit, was genau denn ein Gleichnis ist. Der Klassiker der modernen Gleichnisforschung, Adolf Jülicher, unterschied zwischen dem Gleichnis im engeren Sinn, der Parabel und der Beispielerzählung. Die Unterscheidung wurde im weiteren Verlauf der Gleichnisforschung immer differenzierter. Die Folge: Immer weniger Texte galten noch unwidersprochen als «Gleichnis». Längst nicht alle in diesem Buch ausgewählten Texte würden danach als Gleichnis durchgehen, am wenigsten wohl die «Lilien auf dem Feld» (BA 3). Ausserdem ging es der exegetischen Forschung darum, die Gleichnisse, die historisch auf Jesus selbst zurückgehen, von später entstandenen und Jesus zugeschriebenen Gleichnissen zu unterscheiden.

Jetzt gibt es allerdings einen Neuansatz in der Gleichnisforschung. Das Kompendium der Gleichnisse Jesu, das 2007 erschien und auf über 1000 Seiten 104 Gleichnisse behandelt, geht in zweifacher Weise von den vorliegenden Texten aus:

Es nimmt wahr, dass für ganz unterschiedliche Formen von Erzählungen der griechische Ausdruck parabole verwendet wird und verwendet entsprechend eine ganz weite Definition von Parabel bzw. Gleichnis (s.u.).

Es übernimmt alle Gleichnisse, die die urchristliche Tradition Jesus als Sprecher zugeschrieben hat[1] und versteht sie als Zeugnisse der Erinnerung an Jesus.

Eine Definition

Das Kompendium der Gleichnisse Jesu gebraucht eine sehr weite Definition von Gleichnis bzw. Parabel. Sie stellt sechs Merkmale besonders heraus:

1      Gleichnisse sind kurze narrative Texte, eine Art «Erzählminiaturen»

2      Gleichnisse sind fiktionale Erzählungen, sie sind ausgedacht

3      Die erzählte Welt der Gleichnisse ist auf die bekannte Realität bezogen, sie sind «realistisch», was erzählt wird, könnte tatsächlich so stattgefunden haben

4     Gleichnisse lassen erkennen, dass es neben dem Wortlaut des Textes noch eine andere Bedeutungsebene gibt

5     Gleichnisse sind deutungsaktiv, sie wollen etwas bewirken, sie drängen zu einer Einsicht, ja sogar zum Handeln

6     Gleichnisse stehen im Kontext eines grösseren Textzusammenhangs und im Ko-Text der Lebenswelt ihrer Hörerinnen bzw. Leser[2].

Vor allem die Punkte 4, 5 und 6 bedürfen wohl der näheren Erklärung. Dazu gleich mehr. Zuvor sei noch kurz dargestellt, wie das Kompendium die 104 Gleichnisse auslegt. Es legt sich nämlich nicht auf eine bestimmte Auslegung fest, sondern stellt für jedes Gleichnis unterschiedliche Auslegungsdimensionen im Zusammenhang dar. «Deutungshorizonte eröffnen» nennt das der Herausgeber des Kompendiums, Ruben Zimmermann, und ist davon überzeugt, dass diese Vielfalt des Verstehens bereits in den Gleichnistexten angelegt ist, denn Gleichnisse sind eine «Ermutigung an den Leser und die Leserin, zu seiner /ihrer je eigenen Auslegung einer Parabel zu gelangen … Sie wollen in einen Prozess des persönlichen Verstehens und Glaubens hineinziehen, der besonders in der gemeinsamen dialogischen Sinnsuche zur Entfaltung kommt.»[3] Dementsprechend ist das Kompendium auch nicht das Werk eines Einzelnen, sondern Gemeinschaftswerk von 46 Autorinnen und Autoren aus ganz verschiedenen Traditionen.


[1]
Dabei bezieht das KOMPENDIUM neben dem Neuen Testament (inklusive des Johannesevangeliums) auch weitere frühchristliche Texte wie das Thomasevangelium mit ein.

[2] Nach KOMPENDIUM 25

[3] Zimmermann in: BIBEL UND KIRCHE 97

 

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